20.7.2017 - Eskilstuna (87428 km)
"Da ist ein Radweg!" kreischt eine blonde Frau in Köln aus ihrem Audi TT heraus. Es stört sie, dass ich auf der Straße fahre und nicht auf dem Radweg daneben. Es ist genug Platz zum Überholen, aber die Fahrbahn gehört offenbar ihr allein.
Wegen der hohen Bordsteinkante hatte ich allerdings noch nicht die Gelegenheit, von dieser Straße zu verschwinden, in die ich gerade eben eingebogen bin. Erst ein paar Meter weiter vorn gibt es eine Absenkung. Die Audifahrerin ist jung und recht attraktiv. Doch die Art ihrer Belehrung, ihr Gekrächze und diese Verbitterung machen sie hässlich. Innerlich ist sie schon mit Anfang 20 vergreist.
Fahrradspuren in den Niederlanden. Allein schon durch die farbliche Hervorhebung verhalten sich die Autofahrer defensiver. Entwicklungsland Deutschland könnte hier viel lernen.
Besserwisserei und Klugscheißerei sind ein allgemeines deutsches Phänomen. "Es IST soundso!" - "Man MUSS diesunddies tun!" - "Du hättest dasunddas NICHT MACHEN DÜRFEN!" - Die eigene Sicht auf die Welt ist die richtige, alles andere ist falsch, dumm, blöd.
Der Kampf mit den besserwissenden Autofahrern begann sogar schon mit der Einreise nach Österreich. Die Slowakei lag nicht weit zurück, als ich bei Wien auf eine Kraftverkehrsstraße geriet. Die blauen Schilder mit dem breitmauligen weißen Auto standen erst dort, wo es zum Umkehren zu spät war. Ich hätte auf dem Zubringer umdrehen und gegen den Strom zurückradeln müssen. Ein Autofahrer zeigte mir einen Vogel, andere hupten aggressiv und deuteten aufgeregt auf einen Radweg, der drei Fahrspuren weiter links verlief, abgetrennt durch eine massive, hohe Leitplanke.
So zieht sich das hindurch - durch Österreich und Deutschland. In Frankfurt werde innerhalb weniger Sekunden gleich zweimal wild angehupt. In diesem Fall ist es tatsächlich meine Schuld, mein "Versagen". Weil ich nach einem Fahrradladen Ausschau gehalten habe, übersah ich den Beginn eines Radweges rechts neben der Fahrbahn. Und das kann manch einer selbst einem ganz offensichtlich ortsfremden, vollbepackten Radler nicht verzeihen. - Oje, oje! Ich habe sie in ihrer freien Fahrt behindert. Wie konnte ich diesen Fehler begehen? Ich bin so dumm, ich bin so blöd. Und sie sind so wichtig, und ihre Zeit ist so kostbar. - Sorry, sorry. Meine Schuld, Schuld, Schuld, Schuld!
Warum nur sind die Deutschen hinter dem Lenkrad so verbohrt? Ganz anders als etwa die gelassenen Franzosen oder die Engländer. Und auch über die Belgier, die Niederländer, die Dänen und die Schweden kann ich mich nicht beklagen. Den Gipfel erreichen die allgemeine Klugscheißerei und Intoleranz in Deutschland, wenn es anonym wird oder man dem anderen zumindest nicht in die Augen blicken muss. Schaut nur in die diversen Foren im Internet.
Unterwegs in Frankreich (Foto: Wolfgang Renz)
Um meine Tante zum 80sten Geburtstag in Biberach zu überraschen, bin ich neulich von der belgischen Atlantikküste aus sehr weit zurückgefahren Richtung Süddeutschland (-> "Überraschung!"). Bei der Gelegenheit besuche ich gleich auch noch weitere Verwandte in der Umgebung. Mache Station bei meiner Cousine Brigitte und ihrem Mann Ralph, fahre noch ein Stück weiter südlich zu meiner Schwester Christine und ihrer Familie in Müllheim.
Unsere Mutter wohnt ein paar Hundert Meter entfernt in einem Seniorenheim. Sie ist in den letzten Jahren ziemlich vergesslich geworden. Als ich mich Weihnachten 2012 von ihr verabschiedete, war ich fast sicher, dass sie mich bei meiner Rückkehr nicht mehr wiedererkennen würde.
Nach viereinhalb Jahren sehe ich meine Schwester Tine in Müllheim wieder.
Tine und ich warten mit unserem Besuch bis nach dem Abendessen, das Mutter im Gemeinschaftsraum des Heimes einnimmt. Dann geht Tine voran zu ihrem Tisch und sagt: "Schau mal, wen ich noch mitgebracht habe." Jetzt komme ich nach. Und bin so glücklich über Mutters Worte: "Das ist ja Peter. Bist Du mit dem Fahrrad hier?"
Es gibt noch einen weiteren Termin in Süddeutschland. Der hat sich erst vor ein paar Monaten ergeben. Per Mail trudelte eine "Einladung zur Party" ein, als ich gerade 400 Meter unter dem Meeresspiegel campierte, in Ein Gedi in Israel am Toten Meer. Die Einladung kam von Heike und Julian. Mit der "Party" war ihre Hochzeit gemeint, und ich war sehr berührt, dass sie an mich gedacht hatten, denn wir kennen uns noch gar nicht so lange.
Als ich im September 2013 in der kirgisischen Stadt Osh festsaß, weil ich wochenlang auf das chinesische Visum wartete (-> "Die Reise des Reisepasses"), stand eines Tages ein weißer Mercedes-Lieferwagen mit deutschem Zollkennzeichen im Garten des "Tes Guesthouse". Heike und Julian waren mit dem in die Jahre gekommenen Auto auf dem Weg nach Südosten, wussten aber selbst noch nicht, wie weit sie es schaffen würden, weil sie entweder durch die Bürokratie aufgehalten werden mochten oder durch das Ableben von "Fred", ihrem weißen Mercedes.
"Fred" im Osten Indiens
Wir verbrachten einige unterhaltsame Tage gemeinsam in Osh. Noch bevor mein Pass mit dem chinesischen Visum aus Deutschland zurückkam, reisten sie weiter. Aber in China holte ich sie wieder ein, weil sie wegen komplizierter Formalitäten nicht weiterkamen. Wir trafen uns dort zufällig auf dem Viehmarkt in Kashgar. Monate später sahen wir uns - verabredet via Internet - im Süden Indiens wieder. Fünf Wochen danach trafen wir uns abermals nur zufällig, ganz oben im Norden Indiens, in Darjeeling. Verabredet waren wir danach wieder an der Grenze zu Myanmar und später in Thailand. Und noch ein weiteres Mal trafen wir uns nur zufällig, auf einer Landstraße in Laos. Sie waren mit Fred weiter gekommen, als sie gedacht hatten. Bald nach diesem letzten Treffen flogen sie nach Deutschland zurück.
Heike und Julian in Myanmar
Dann hörten wir lange nichts voneinander. Das ist auf solch einer langen Reise normal, man lernt so viele Menschen kennen, dass sich die Kontakte nur unregelmäßig pflegen lassen. Umso größer die Überraschung, als ich am Toten Meer die Einladung von Julian und Heike bekomme. Die Hochzeit findet beim Kloster Allerheiligen nahe Oppenau im Schwarzwald statt.
Von Müllheim geht es also nordwärts nach Oppenau und dann zehn Kilometer hinauf nach Allerheiligen. Schon am Abend vor der eigentlichen Feier ist die halbe Hochzeitsgesellschaft beisammen. Große Zelte sind aufgestellt, es gibt Bier und Wein, und außerdem Flammkuchen am Fließband. Die Gäste sind alle sehr entspannt, auch mit den Ältesten ist man sofort per Du. Wirklich eine Party.
Für die Zeremonie der Trauung in der Kapelle leihe ich mir am nächsten Tag beim Brautvater eine etwas bessere Hose aus, damit die Hochzeit nicht durch meine graue Outdoor-Hose mit den vielen Beintaschen Expeditionscharakter bekommt. Das hellblaue Poloshirt, das ich aus meiner Packtasche ziehe, ist feierlich genug. Aus Ulm sind auch Alina und Max gekommen, die wir vor dreieinhalb Jahren ebenfalls in Asien kennengelernt haben. Teil der Gang waren damals außerdem Helen und Jens, die jetzt auch zur Feier eingeladen waren. Aber sie sind mit ihrem Geländewagen schon wieder unterwegs, diesmal durch Afrika. Unglaublich, wie viel Zeit die Deutschen fürs Reisen haben :-)
Julian hat gerade eben geheiratet.
Nach dem feierlichen Teil der Hochzeit - der Pfarrer ist würdevoll und zugleich doch so angenehm locker - gehen wir alle wieder in den Party-Modus über.
Der weitere Weg durch Deutschland nach Nordeuropa - im schwedischen Eskilstuna ist ja noch ein Erlanger Grußschreiben auszuliefern - wird zu einer regelrechten Besuchstour. In Frankfurt bleibe ich ein paar Tage bei meinem Bruder Max. Zusammen radeln wir dann Richtung Köln, um in Wirtenbach einen seiner Freunde zu besuchen. Danach mache ich Station bei der Firma Bohle, die die weltberühmten Schwalbe-Reifen produziert. Besuche dann Freunde in und um Köln, bin im Norden Deutschlands in Oldenburg und in Hamburg zu Gast bei Lemlem-Freunden, die ich noch gar nicht persönlich kannte. Sie haben mich eingeladen, als sie lasen, dass meine Reise auch durch Norddeutschland führt.
Eskorte nördlich von Frankfurt: mein Bruder Max und sein Kumpel Matthias.
Stippvisite bei der Firma Bohle in Reichshof - rechts Marketing-Mitarbeiter Carsten Zahn.
Der Produkt-Manager persönlich, René Marks, tauscht meine gebrauchten Marathon Mondial-Reifen gegen ein neues Modell aus, das es eigentlich noch gar nicht gibt: Der Schwalbe Marathon GT-Tour wird erst auf der kommenden Eurobike vorgestellt. Ich glaube, besonders scharf ist René Marks auf meinen Vorderreifen, der 26.000 Kilometer von Kapstadt bis nach Reichshof gefahren ist. Man wird ihn im Labor unter die Lupe nehmen.
Besuch bei Henry in Leverkusen ...
... und bei Rita (macht das Foto) und Helmut in Oldenburg ...
... und bei Birgit und Wolfgang in Hamburg.
Dann ergibt es sich auch noch, dass ich drei Tage lang mit Bettina (Tine) durch Dänemark radele. Sie fährt alle Schleifen des Radfernweges an der Ostküste Jütlands aus, während ich die Abkürzung durchs Landesinnere nehme und sie so einholen kann. Tine ist eine Freundin aus dem -> Radreise-Forum. Sie hatte ganz wesentlichen Anteil daran, dass nach dem Diebstahl meines Fahrrades in Argentinien ein neuer Lastenesel nach Kapstadt überbracht wurde (-> "Nach Afrika!").
Tine -- verabredet hatten wir uns im Städtchen Hadsund; getroffen haben wir uns dann aber schon zehn Kilometer vorher bei dieser Bushaltestelle.
Tine setzt mit mir von der dänischen Nordspitze noch über nach Schweden, weil es nur von dort eine Fährverbindung zurück nach Deutschland gibt. Am Hafen von Göteborg verabschieden wir uns. Mein Weg führt nach Nordosten zu Erlangens Partnerstadt Eskilstuna. Aber in wenigen Wochen werden wir uns in Göttingen bereits wiedersehen.