Reifer Reifen

(China)

1.6.2014 - Shanghai / China (26167 km)

Der Hinterreifen ist kaputt. Endlich!

Ein rhythmisches Geräusch während einer Abfahrt hat mich aufgeschreckt. Ich bremse ab, gerade noch rechtzeitig. Der Schlauch quillt bereits als Blase durch einen Riss in der Reifenflanke. Noch ein paar Umdrehungen mehr, und er wäre mit einem lauten Knall geplatzt. Der Reifen ist hinüber - aber er hat sage und schreibe 25.000 Kilometer durchgehalten.

Es passiert zwar zur Unzeit, an einem ungemütlichen Regentag in der Provinz Hunan im Süden Chinas, doch am Straßenrand steht ein Haus, in dessen Vorraum ich mich retten kann. Um die Familie über meine Anwesenheit zu informieren, klopfe ich kurz an die offene Tür. Die Chinesen lösen sich von ihrem Fernseher, kommen heraus und sind natürlich irritiert. Ich zeige auf die Problemstelle am Reifen. Sie überlegen, wie sie mir helfen können. Eine Luftpumpe? - Nein, nein, danke! Ich brauche für die Reparatur nur das Dach über dem Kopf. Und einen Ersatzreifen habe ich dabei.

Der erste Hinterreifen hielt bis kurz vor Shanghai durch - 25.000 Kilometer!

Genaugenommen sogar zwei. Deswegen bin ich irgendwie auch ganz froh, dass der Hinterreifen nun endlich aufgegeben hat. Seit fünf Monaten schleppe ich schon einen zweiten Faltreifen mit mir herum, den mir Arbeitskollegen nach Indien mitgebracht hatten. Ich wollte ihn eigentlich sofort aufziehen, bei Kilometerstand 17.000. Aber der erste Reifen war noch viel zu gut für die Entsorgung.

"10.000 Kilometer sind Pflicht für einen Marathon Mondial", hatte Marketingleiter Carsten Zahn gesagt, als ich die Firma Schwalbe im Sommer 2012 in Reichshof besucht habe. "Über alles darüber hinaus freuen wir uns." Dieses Exemplar bietet viel Grund zur Freude - 25.000 Kilometer sind für einen Hinterreifen unter Gepäcklast wirklich eine unglaubliche Leistung.

 

Die Einreise nach China liegt gut zwei Wochen zurück und verlief fast reibungslos. Nur auf der vietnamesischen Seite gibt es Verwirrung, als der Immigration Officer in meinem Pass das China-Visum nicht finden kann. Da ich es über die chinesische Botschaft in Berlin beantragt habe, um wenigstens zwei Monate Aufenthalt zu bekommen, ist es im anderen Pass. Als ich den vorzeige, wird eine Erklärung eingefordert. Meine übliche Antwort: Dies ist eine sehr lange Reise, da reicht ein Pass nicht aus. Der Mann akzeptiert das.

Die Vietnamesen sind ziemlich investigativ, wenn es um die Stempel der Nachbarstaaten geht. Bei der Einreise musste ich an einer Sperre den laotischen Exitstempel vorweisen, bevor ich vietnamesischen Boden überhaupt nur betreten durfte.

Nga (links), Hung und Phuong in Nordvietnam

"See you again!" sagt draußen am Schlagbaum dann der Grenzbeamte zum Abschied. So streng, wie er in seiner kommunistisch anmutenden Uniform aussieht, so aufrichtig freundlich ist er. -- Ja, gern! Im Gegensatz zu meinem Besuch 2003 hat es mir dieses Mal gut gefallen in Vietnam. Der Norden erscheint mir um einiges angenehmer als der Süden, wo die Menschen übertrieben geschäftstüchtig sind und dich ständig über den Tisch ziehen wollen. Nicht etwa nur beim Kauf von touristischen Andenken, sondern auch bei jeder Mahlzeit in der Garküche. Um alles musst du feilschen, selbst um den Preis für eine kleine Schüssel Reis. Die Preise sind anfangs völlig überzogen. Diesen Kampf führt man in Nordvietnam allenfalls dort, wo es zu viele westliche Touristen gibt. Normalerweise ist der Gast aber geachtet, und er wird ehrlich behandelt.

Auf der chinesischen Seite geht alles zügig vonstatten. Das Gepäck läuft wie an einem Flughafen durch Scanner - die Durchleuchtung scheint nun langsam zum Standard an den Grenzübergängen zu werden. Auch die chinesischen Uniformierten sind freundliche Menschen, keine kommunistischen Roboter. Sie lächeln beinahe amüsiert beim Anblick des schwerbeladenen Fahrrades.

Karstlandschaft im Süden Chinas

Gleich hinter dem Grenzgebäude erwartet mich auf einem großen Platz eine aufgeregte Schulklasse. Anfangs wagt sich niemand so recht heran. Doch dann nähert sich ein erstes schüchternes Mädchen. Sie fragt, woher ich komme. Nun trauen sich auch die anderen näherzukommen, bald bin ich umringt von der ganzen Klasse. Sie haben Tausend Fragen und wollen Tausend Fotos mit mir machen.

An diesem ersten Tag in China fahre ich nur gut 80 Kilometer und quartiere mich am frühen Nachmittag im Städtchen Ningming in einem kleinen Hotel ein. Die Unterkunft zu finden, ist nicht ganz einfach, denn alles ist ausschließlich mit chinesischen Zeichen beschriftet. Ein Rikschafahrer hat in die ungefähre Richtung der Herberge gewiesen, aber ich muss schon genau in jeden Eingang schauen, um schließlich am Tresen zu erkennen, welches das Hotel ist. In den kommenden Tagen wird es mitunter noch schwieriger, denn die Unterkünfte sind manchmal nur Gästezimmer im Hinterhof ganz normaler Geschäfte. Die kann ich wirklich nur finden, wenn mich Einheimische direkt vor die Tür bringen.

Meine günstigste Unterkunft in China war das Zimmerchen in Kunlun für 10 Yuan (1,20 Euro).

 

 

 

 

In Ningming steht der Kauf einer SIM-Karte auf der Todo-Liste. Die Tour de Friends wird in China eine Tour de Siemens Friends werden, mit regelmäßigen Berichten in internen Medien und mit Besuchen und Vorträgen an fünf Siemens-Standorten. Der Kommunikationsaufwand wird sehr hoch sein.

Die Kleinstadt Ningming versteht mich leider nicht. China Telecom hat ein großzügiges Verkaufsbüro, Englisch spricht jedoch kein einziger der Mitarbeiter. Hilfsbereit sind die Angestellten allemal, sie bringen mich ein paar Türen weiter zu einem Geschäft der Konkurrenz, doch auch dort versteht man mich nicht. In einem dritten Laden klappt es schließlich mit Händen und Füßen: Für sieben Euro (und ohne Vorlage eines Ausweises) bekomme ich eine SIM-Karte von "China Mobile", die auch Internet-tauglich ist.

 

Er wollte gern ein Autogramm. Hat er natürlich gekriegt.

 

 

 

 

In den folgenden Tagen gibt es weitere Probleme, die damit zusammenhängen, dass ich Analphabet bin in China. Da sind die Wegweiser, die oft nur chinesisch beschriftet sind. Anfangs reizen mich die wenig befahrenen Nebenstraßen, nur leider verirre ich mich dort ständig. Die Landkarte ist zu grob und an einigen Stellen fehlerhaft, die OSM-Karte im GPS-Gerät sehr unvollständig. Und die Einheimischen können leider auch nicht weiterhelfen. Wenn sie überhaupt verstehen, wohin ich will (die Betonung des Ortsnamens muss genau stimmen), wollen sie mich immer auf die nahe Autobahn schicken. Dort will und darf ich als Radler aber nicht fahren.

Wenn die Einheimischen nicht weiterhelfen können, folgt man dem Instinkt, nimmt die Straße, die gefühlsmäßig die richtige ist. Wo also Richtung und Größe passen. Doch dann stellt man fest, dass China anders tickt. Eine sechsspurige Straße, die aus einer Stadt heraus in die richtige Richtung führt, entpuppt sich manchmal erst nach etlichen Kilometern als Sackgasse. So endet auch die breite Ausfallstraße östlich von Chongzuo abrupt mit einem Erdwall. Eines Tages werden Arbeiter diesen Erdwall beiseite schieben und mit dem Bau fortfahren. In Deutschland würde man auf eine solche Straße nicht hereinfallen, weil Leitplanken, Straßenschilder, Wegweiser und Ampeln erst zum Schluss montiert werden. Man erkennt es sofort, wenn sich eine Straße noch im Bau befindet. In China aber wird ein frisch asphaltierter Abschnitt auch gleich mit sämtlichem Beiwerk ausgestattet. Der Bautrupp rückt mit einem kompletten Baukasten an und baut, solange noch Bausteine da sind.

Drei Spuren auf beiden Seiten, Wegweiser in alle Richtung -- und trotzdem eine Sackgasse.

Auch wenn es ums Essen geht, behindert mich mein Analphabetismus. Am liebsten kehre ich in solchen Garküchen ein, in denen bereits Kunden sitzen. Da muss man nicht mit Worten bestellen oder eine Speisekarte dechiffrieren, sondern kann einfach auf den Teller eines anderen Gastes zeigen. Eigenartigerweise fragen die Betreiber mit Fingerzeichen oft nach, ob ich eine Portion haben möchte. - "Ja, natürlich", zeige ich zurück, "eine Portion."

 

So - jetzt such' dir mal was Schönes aus.

 

 

 

Kurz vor Yangshuo, wo die südchinesischen Karsthügel sich dramatisch verdichten zu regelrechten Karstkegelwäldern, kehre ich gegen 16 Uhr in einem kleinen Restaurant ein. Die Uhrzeit ist ungünstig, kein anderer Gast ist da, auf dessen Gericht ich zeigen könnte. Die freundliche Wirtin führt mich in den Hinterhof und deutet auf Hühner. Ja, gute Idee, ich nehme Huhn. Inzwischen zeige ich schon längst von mir aus, dass ich nur eine Portion will - also hoch den Zeigefinger: eine Portion.

Zwanzig Minuten sitze ich da und trinke bereits das zweite 2%-Leichtbier, als mir schwant: Sie hat mich missverstanden. Eine Viertelstunde später bestätigt es sich. Die Dame bringt eine Riesenschüssel Suppe, und darin schwimmen die Einzelteile eines - Zeigefinger hoch - EINES ganzen Huhns. Da in China alles gegessen beziehungsweise ausgelutscht wird, treibt auch der Unterkiefer in der Suppe, der obere Teil des Kopfes ebenfalls, die Füße sowieso. Hühnerfüße kann man in Chinas Läden einzeln eingeschweißt für einen Yuan kaufen, für 12 Cent. Hühnerfüße sind wie Eis am Stiel.

Ein ganzes Huhn also. Ich schaffe es. Bis auf den Kopf und die Füße.

Nanning mit seinen zweieinhalb Millionen Einwohnern ist die erste große Stadt, die ich durchquere - ca. 40 Kilometer dicht bebautes Gebiet am Stück. Es flutscht besser als befürchtet. Während die Überlandstraßen oft nur zweispurig sind, verbreitert sich der Asphalt bereits in den Außenbezirken der Städte verschwenderisch. Auf achtspurigen Straßen verlieren sich zwischen monotonen Hochhausblocks ein paar einzelne Autos und Mopeds. Dicht wird der Straßenverkehr erst in den Stadtzentren. Dort gibt es für die vielen Zweiräder meist breite Extraspuren - durch Nanning bin ich in knapp drei Stunden durch.

Nach Besuchen bei Siemens in Changsha und Wuhan steht Nanjing auf dem Plan, ein Standort, der eng mit Nürnberg und Berlin zusammenarbeitet. Hier gibt es ein Wiedersehen mit meinem Kollegen Oliver, der Anfang 2013 seine Koffer in Nürnberg gepackt hat, um für ein paar Jahre in China zu arbeiten. Es gibt einen herzlichen Empfang bei ihm, mit selbstgebackenem, dunklen Roggenbrot und einem Grillabend auf dem Balkon 22 Stockwerke über Nanjing.

Oliver ist nicht nur ein guter Koch. Durch und durch Manager, regelt er in den nächsten Tagen auch gleich ein paar meiner Problemchen der unterschiedlichsten Art (wer hätte etwa gedacht, dass ich bei ihm Lederfett für meinen Brooks-Sattel finden würde?). Als Dankeschön mache ich noch einen Extravortrag bei seinen chinesischen Mitarbeitern.

Anfangs kam bei mir der Verdacht auf, dass Siemens in China nur weibliche Mitarbeiter einstellt.

 

 

 

 

 

 

 

Auch hier ist das Interesse groß. Im Vorfeld hatte ich bezüglich der Vorträge etwas Bedenken, weil die Chinesen nicht gerade dafür bekannt sind, dass sie leicht aus sich herausgehen. Oliver hatte angekündigt, dass die Kollegen sich ihre Begeisterung wohl kaum anmerken lassen würden. Doch bei allen Veranstaltungen in China ist das Eis schnell gebrochen. Die spaßigen Einlagen - durchaus ein Risiko in einem fremden Kulturkreis - kommen richtig an, und es gibt am Ende zahllose Fragen, die mitunter sogar ausgesprochen persönlich sind. Eine junge Dame wagte in Wuhan in großer Runde nachzuforschen, wie das bei mir denn so mit Freundinnen sei.

Nach dem ersten Nanjing-Vortag kommt ein chinesischer Kollege auf mich zu und fragt vorsichtig, ob er mit mir zusammen nach Shanghai radeln darf. Wir vereinbaren, dass wir auf der ruhigeren Route südlich um den Tai-See fahren und uns für die knapp 400 Kilometer drei Tage Zeit nehmen. Hou ist 30 Jahre alt und Leiter einer Produktionslinie mit 25 Mitarbeitern. Er ist radreiseerfahren, radelt flott und vor allem auch ausdauernd. Und er schafft gleich am ersten Tag, was mir nur alle drei bis vier Monate gelingt: den Reifen plattzufahren.

Mit dem chinesischen Siemens-Kollegen Hou in einem "traditionellen Dorf" kurz vor Shanghai.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Entschluss, mich zu begleiten, kam bei Hou spontan während des Vortrags. Sein Chef hat ihm umgehend die nötigen Urlaubstage genehmigt. 15 Tage stehen Hou insgesamt pro Jahr zu, bisher hat er aber noch nie seinen kompletten Jahresurlaub aufgebraucht, wie er mir erzählt. Was man von Japan hört, ist auch hier nicht ungewöhnlich: Angestellte schenken dem Arbeitgeber einen Teil ihrer freien Tage. 

 

Liebevolle Spitznamen für außergewöhnliche Gebäude in China: Das Sheraton-Hotel am Tai-See ist "Die Klobrille" ...

 

 

 

 

... und eines der hohen Gebäude in Shanghais Zentrum nennen sie den "Flaschenöffner".

Eigentlich war mein Plan, von China aus mit einer Fähre nach Südkorea überzusetzen, eventuell auch noch von Korea nach Japan, und hier oder dort ein Schiff nach Nordamerika zu suchen. Aber es sind wieder einmal seltsame bürokratische Bestimmungen, die die Möglichkeiten stark einschränken:

  • In Südkorea darf man wegen rätselhafter Ein-/Ausreisebestimmungen in die meisten Frachter nicht mehr einsteigen. Aussteigen in Südkorea ist jedoch weiterhin möglich.
  • Wenn man per Flugzeug, per Kreuzfahrtschiff oder überland in die USA einreist, benötigt man als EU-Bürger nur eine elektronische Erlaubnis, die via Internet beantragt werden kann (ESTA-Verfahren ["Electronic System for Travel Authorization"] - relativ einfach, Kosten: 14 US$).
    Bei der Anreise per Frachtschiff ist jedoch ein aufwendiges "B1/B2-Visum" erforderlich, das unter anderem mit einem persönlichen Interview auf einer US-Botschaft verbunden ist, außerdem mit dem Verlust von 160 US-Dollar.

Am Ende aller Recherchen bleibt für mich nur eine Route übrig: die von Shanghai nach Prince Rupert in Kanada.

Nun verbringe ich noch einige Tage in Shanghai und mache die letzten Erledigungen, bevor die "Hanjin Ottawa" am 4. oder 5. Juni im Containerhafen ablegt. Ich beantrage die Erlaubnis für die Einreise in die USA an der Grenze zu Kanada, besorge einen Reiseführer für Nordamerika, antworte auf einige dringendere Mails der letzten Wochen. Auf dem Schiff werde ich dann für 14 Tage von der Außenwelt völlig abgeschnitten sein. Und - nach jetzigem Stand - auch der einzige Passagier.

 
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Maks

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