Südafrika - Leben hinter dem Elektrozaun
1.5.2016 - Aliwal North (60879 km)
"Muzungu, where do you go?" ruft jemand von irgendwoher. Der Straßenverkehr ist laut auf dieser Kreuzung in Kapstadt. Ich schaue um mich. Wer hat da gerufen? Und meint er wirklich mich? Schließlich laufen auch andere Weiße über Südafrikas Straßen.
Links hinter mir entdecke ich ihn am Steuer eines Pickups. Um die 35 Jahre alt, kohlrabenschwarzes Gesicht, breite Nase, sehr kräftige Statur. Sein breites Lächeln lässt zwischen den vollen Lippen blendend weiße Zähne blitzen. Ein erfrischendes Lachen. Diese kindliche Unschuld, die er ausstrahlt! Die gute Laune, diese Leichtigkeit - sie stecken an. Deswegen bin ich immer wieder so gern in Afrika.
Wohin ich fahre? "Nach Kairo."
"Oh! Das ist ein weiter Weg."
Ich erzähle ihm gern, dass ich schon oft in Afrika war, schon insgesamt drei Jahre hier verbracht habe, und dass dieser Kontinent mir der liebste ist. Darüber freut er sich natürlich. Er selbst stammt - wie so viele Gastarbeiter in Südafrika - aus dem Kongo. "Muzungu" (gesprochen: Musungu) ist das in Ostafrika verbreitete Wort für den Weißen Mann. So weich und klangvoll, dass man kaum ein Problem damit haben kann, so gerufen zu werden.
Die Ampel schaltet auf Grün, wir wünschen uns gegenseitig alles Gute.
Bei "Woodstock Cycleworks", in einem östlichen Vorort von Kapstadt, habe ich mein argentinisches Fahrrad für ein Drittel des Anschaffungspreises verkaufen können. Nils, der Besitzer des Ladens, wollte dann vor meinem Aufbruch unbedingt noch das neue Patria-Rad sehen.
Ich bin froh, Kapstadt nun endlich zu verlassen. Zu viel Kriminalität in dieser Stadt, und die Einschläge kamen immer näher.
"You want to cycle through South Africa? You need a fire arm!" Das waren nicht etwa die Worte eines erzkonservativen Buren. Ein schwarzer Hafenarbeiter riet es mir gleich bei der Ankunft in Kapstadt, noch bevor ich das Containerschiff verlassen hatte. Ich hielt das für eine typische afrikanische Übertreibung, mit dem üblichen Tenor: Hier, in unserem Kreis, bist du sicher; aber wehe, du ziehst weiter, zu den anderen! - Doch sooo abwegig ist das mit der Schusswaffe gar nicht. Es ist erschreckend: Die Kriminalität ist seit meinem letzten Aufenthalt in Südafrika noch einmal gestiegen. Die aktuellen Zustände sind wirklich einschüchternd.
In den zwei Wochen in Kapstadt mit Unterkunft in der New Church Street, einem besseren Viertel, erfuhr ich aus erster Hand von drei Überfällen. Einer jungen Deutschen wurde nur 100 Meter vom Hostel entfernt abends um 21 Uhr ein Messer an den Hals gehalten. Ein Pärchen wurde mitten am Tag im Zentrum Kapstadts mit einer Machete überfallen. Auch im dritten Fall waren die Männer mit Messern bewaffnet. An der Tagesordnung (bzw. Nachtordnung) waren die Aufbrüche von Autos auf dem Parkplatz des Hostels. Das Auto abends leerzuräumen und das leere Handschuhfach offen zu lassen, war keine Garantie dafür, das Auto am nächsten Morgen unversehrt vorzufinden.
Kaum eine Hausmauer in den Städten, auf der nicht energisch vor Einbruch gewarnt wird.
In Mossel Bay sagt mir später ein junger deutscher Rucksackreisender: "Jetzt, außerhalb Kapstadts, fühle ich mich regelrecht befreit." Genauso geht es mir, als ich aus Kapstadt herausradele.
Ganze vier Wochen lang habe ich nicht mehr im Fahrradsattel gesessen. 14 Tage dauerte die Reise mit dem -> Schiff von Brasilien nach Afrika, und weitere zwei Wochen habe ich in Kapstadt verbracht. An diesem ersten Radeltag in Afrika spüre ich trotz der langen Pause wieder die drückenden Schmerzen im linken Fußballen, die noch von dem vielen Schieben meines argentinischen Ersatzfahrrades herrühren. Da das Rad eine berguntaugliche Gangschaltung hatte und zusammen mit Anhänger und Gepäck rund 70 Kilogramm wog, musste ich das Gespann auf dem Weg von San Ignacio bis zum brasilianischen Hafen etwa 300 der 1200 Kilometer die Hügel hinaufstemmen *). Etwas beunruhigend, dass sich der Fuß auch nach einem Monat noch nicht erholt hat. Immer wieder muss ich anhalten und ihm eine Pause vom Pedalieren geben.
*) Kennt jemand von Euch ein Programm, mit dem man aus einem GPS-Track diejenigen Teilstrecken herausfiltern kann, bei denen man mit weniger als x Kilometern in der Stunde unterwegs war? Dann ließe sich genau ausrechnen, wie viele Kilometer ich zu Fuß unterwegs war. Hinweise bitte an -> Peter.
5.6.2016: Vielen Dank an Michael und Dietmar für den Hinweis auf das folgende Programm zur detaillierten Auswertung des Tracks: GPS-Track-Analyse.NET 6 - hier kann man unter "Statistik/Analyse" den Track auf vier frei wählbaren Geschwindigkeitsbereiche hin untersuchen.
Die Auswertung meines Tracks hat ergeben, dass ich auf den 1200 Kilometern zwischen San Ignacio und Itajaí das Fahrrad 280 Kilometergeschoben habe.
Mein Gefühl der Befreiung hält hinter Kapstadt nur 50 Kilometer an. Nachdenklich stimmt die erste Siedlung vor Stellenbosch, dem Zentrum der südafrikanischen Weinproduktion. Selbst hier in der Provinz haben sie Elektrodrähte auf den Mauern, die die Häuser umgeben. Oder gleich größere Wohnkomplexe umgeben, die Gated Communities. Und wieder die Warnungen "Armed Response!" an den Mauern. Soll heißen: Schusswaffengebrauch gegen Einbrecher.
Um diesen Wohnkomplex bei Stellenbosch wurde der Elektrozaun gleich zweireihig gezogen.
Ein Auto hält neben mir, der weiße Fahrer warnt mich vor dem letzten Kilometer zwischen dieser Siedlung und dem Stadtrand von Stellenbosch. Es sei gefährlich hier. Ich wundere mich nur, nichts sieht nach Überfall am helllichten Tag aus. Keine Slums, keine Squatter Camps sind zu sehen. - "Da hinten kommt ein anderer Radler", sagt der Autofahrer. Ich solle den nächsten Kilometer besser mit ihm zusammen fahren. (Klar in diesem Kontext, dass der Radler ein Weißer ist.) Wieder halte ich das für übertrieben. Die Weißen warnen einfach zu oft vor den Schwarzen. Gut erinnere ich mich an die ältere Dame, die mir auf der letzten Reise durch Südafrika vor 15 Jahren begegnete. "Haben Sie denn keine Angst vor Schwarzen?" fragte sie in vollem Ernst, als sie hörte, dass ich ganz Afrika durchquert hatte. Und dieses Mal waren zwei weiße südafrikanische Haudegen ganz in Sorge, weil ich hinauf Richtung Äquator fahren will: "Da sind doch alle schwarz!"
Auch wenn die Warnung des Autofahrers übertrieben sein mag, fahre ich nur langsam weiter, um den anderen Radler aufschließen zu lassen. Chris ist passionierter Mountain Biker, und auch er meint, dass ich mit all meinem Gepäck diesen nächsten Kilometer besser nicht allein radle. Tatsächlich werden wir von einer Gruppe junger Schwarzer angepöbelt. Ob sie aber auch angreifen würden? - Im Zentrum von Stellenbosch sitzen wir noch auf zwei Becher Kaffee zusammen. Chris zeigt mir auf der Landkarte zwei Stellen auf den nächsten 600 Kilometern Richtung Osten, an denen ich ganz besonders aufpassen soll: auf dem letzten Abschnitt vor Mossel Bay und am Ortsausgang von Knysna.
Die meisten Spiele gegen Heinrich in Stromsriver habe ich verloren.
Meine Stimmung in den kommenden Wochen geht auf und ab. Ich habe überaus herzliche Begegnungen mit farbigen und schwarzen Südafrikanern, treffe freundliche Weiße, aber auch solche, die wir als Rassisten bezeichnen würden. Dann wieder pöbeln mich betrunkene, manchmal aber auch nüchterne Schwarze an, gießen Öl auf das Feuer der weißen Rassisten. Würden mich die Pöbelnden auch so blöd angehen, wenn meine Hautfarbe dunkel wäre? Sind auch sie Rassisten?
Das Kap der Guten Hoffnung wird den Besuchern gern als "The most south-western point of the African continent" verkauft. Das ist allerdings eine windige Behauptung. Das Kap ist weder der südlichste noch der westlichste Punkt des Kontinents. Okay, im Süden ist es vielleicht der westlichste Punkt, das mag man noch einsehen. Aber ist es im Westen der südlichste? Genauso könnte man einige Orte an der westafrikanischen Küste als die südwestlichsten definieren.
Mit dem südlichsten Punkt Afrikas gibt es dagegen kein Vertun. Der liegt rund 220 Straßenkilometer von Kapstadt entfernt: am Cape Agulhas. Weitab der Durchgangsstraßen, nur eine lange Sackgasse führt dorthin. Es ist angenehm und relativ entspannt in dieser Gegend. Während ich sogar im verschlafenen Hermanus noch Elektrozäune auf den Ummauerungen sah, fehlt in einigen Orten hier dieser Stromdraht, in Struisbaai und L'Agulhas fehlen an vielen Häusern sogar die Mauern.
Am Cape Agulhas, dem südlichsten Punkt Afrikas
Auch einige weitere Orte an der Südküste sind ruhig und entspannt, oft bleibe ich länger als geplant. Viele der Backpacker-Hostels haben eine familiäre Atmosphäre, und sie sind jetzt, außerhalb der Saison, fast leer. Manchmal habe ich einen Acht-Betten-Schlafsaal für mich allein. In Mossel Bay etwa bleibe ich drei Tage, statt - wie ursprünglich geplant - nur einen Übernachtungsstopp einzulegen.
Mich drängt derzeit auch nichts. Die Aufenthaltserlaubnis in Südafrika gilt für 90 Tage. Und erst Ende Mai möchte ich im Norden des Landes in der Nähe des Krüger-Nationalparks sein. Dort werde ich meine Neunkirchener Freunde Inge und Helmut treffen, die eine kurze Rundreise durch Südafrika machen. Auch Gertrud aus Erlangen wird um diese Zeit dort eintreffen. Sie will mit dem Rad von Durban nach Lusaka fahren, und für ein paar Wochen wird unser Weg durch Südafrika und Zimbabwe der gleiche sein.
L'Agulhas, Afrikas südlichste Siedlung nahe dem Cape Agulhas
Auf der Garden Route bei Plettenberg Bay