(Russland)
30.5.2013 - Samara / Russland (5148 km)
Nach einigem Hin und Her habe ich mich entschieden, nun doch noch den Umweg über Moskau zu machen, also zurück nach Westen zu fahren, statt von Wladimir aus Kasachstan direkt anzusteuern. So können wir - Gertrud, Jörg, Walter und ich - unseren Abschied noch um zwei Tage verschieben.
In deutschen Augen wohl eher makaber: Wrackteile an der Gedenkstätte für ein Opfer des Straßenverkehrs.
Nicht ganz ohne Schuld an dieser Entscheidung ist Sergej Sacharov, der Oberbürgermeister von Wladimir. Eine Stadt wie Moskau dürfe man doch nicht auslassen, sagte er, als er mich zweifeln sah. Und gerade jetzt - an dem verlängerten Wochenende um die Feierlichkeiten zum 9. Mai - sei die Stadt relativ leer, weil alle aufs Land hinausgefahren seien zu ihren Datschen.
Moskau - das klingt schon großartig. Das klingt aber auch nach Moloch, Stress und viel Verkehr. Die drei anderen wollten sich das nicht antun und haben einen Shuttle-Bus genommen. Wir werden uns morgen auf dem Roten Platz wiedersehen.
Etwas schüchtern hat gestern Anton vom "VeloTourklub Veles" gefragt, ob er mich mit dem Rad in die Hauptstadt begleiten darf. Oder vielleicht auch noch ein paar Tage länger auf dem weiteren Weg nach Südosten. - Na klar! Sehr gern!
Für den Radler sehr praktisch sind die artesischen Brunnen in den russischen Dörfern.
Anton hat uns in den vergangenen Tagen durch Wladimir geführt, zu den Sehenswürdigkeiten gelotst und uns viel über sein Land erzählt. Er ist ein sehr ruhiger und bescheidener Mensch, 26 Jahre jung. Kennengelernt haben wir uns bereits im vergangenen Jahr in Erlangen. Er war mit vier weiteren Veloklub-Kollegen nach Deutschland geflogen, um von Erlangen aus eine Radtour durch Deutschland, Tschechien und Österreich zu starten. Am ersten Tag fuhr ich mit ihnen vom Erlanger Rathaus, wo es einen Empfang für die Gruppe gab, zum Monte Kaolino in Hirschau.
Damals fiel mir auf, dass die Truppe offenbar ein ganz anderes Verkehraufkommen gewöhnt ist als wir in Deutschland. Wenn ich versuchte, die B14 zu meiden und den Schleifen der ausgeschilderten Fahrradroute zu folgen, schauten sie mich verwundert an: Warum dauernd diese Umwege? Die B14 ist doch ein guter Radweg.
Oh ja, jetzt - hier in Russland - erkenne ich es auch: Unsere B14 ist ein Radweg!
Anton und ich starten in Wladimir. Wir schmeißen uns auf die M7. Bezeichnenderweise sind selbst die unerschrockenen Radler vom Veloklub die Strecke nach Moskau noch nie gefahren. "Gibt es denn keine Ausweichroute, Anton?" - "Nein, wir können nur auf der M7 fahren."
Der Verkehr ist wie ein reißender Fluss. Ein Auto am anderen rast an uns vorbei, es gibt keine Pausen, der Strom ist unaufhörlich - als würden sie alle in einem riesengroßen Kreis fahren.
"Obst und Gemüse von Niederrhein" überholt uns. So steht es auf einem der Lastwagen. Auch die Spedition Altmeyer ist unterwegs. Und gleich mehrere LKW der bankrotten Firma Pfleiderer aus der Oberpfalz fahren Richtung Hauptstadt. Alle natürlich mit russischen Kennzeichen. Die Lastwagen aus Deutschland sind beliebt und werden meist nicht umetikettiert.
Das Bolschoi-Theater
60 Kilometer vor dem Moskauer Zentrum und nur noch zehn Kilometer vom Stadtrand entfernt finden wir an einem Fluss einen geeigneten Platz zum Zelten. Ein kleines Wäldchen bietet Sichtschutz gegen das nahe Dorf, zu schaffen machen uns allerdings Wolken kleiner schwarzer, aufdringlicher Fliegen. Das war wirklich ein Vorteil der Kälte auf dem bisherigen Weg: Es gab keine Belästigung durch Insekten. Innerhalb kürzester Zeit hat sich inzwischen der Sommer mit beinahe 30 Grad eingestellt. Der Frühling dauerte zwei Tage und fiel mit unserem Aufenthalt in Wladimir zusammen, in den Tagen davor radelten wir noch mit Handschuhen.
Bevor wir uns mit den Erlanger Freunden an der Basilius-Kathedrale treffen, inspizieren Anton und ich den Moskauer Campingplatz. Er liegt sehr ruhig in einer ausgedehnten Parkanlage, ist allerdings Mitte Mai noch geschlossen. "Campingplatz" ist ohnehin eine irreführende Bezeichnung, das Ganze ähnelt eher einem Parkplatz für Wohnmobile. Und tatsächlich - das findet Anton telefonisch heraus - ist Zelten hier verboten!
Basilius-Kathedrale
Wo also übernachten? Wir verschieben das Thema und verbinden den Weg zum Roten Platz mit einer Sightseeing-Tour durch Moskau. Insgesamt sind wir an diesem Tag 110 Kilometer in der Stadt unterwegs, oft auch auf Gehsteigen, wie das in Russlands Großstädten üblich ist. Die Fußgänger regen sich nicht darüber auf, lassen sich sogar beiseite klingeln. Dafür werde ich von einem Polizisten gestoppt, weil ich eine achtspurige Straße nicht auf dem Zebrastreifen überquere. Mein "Ich verstehe nicht" tut er mit einem "Ja, ja ..." ab, bis Anton zu Hilfe eilt und dem Polizisten erklärt, dass er wirklich einen Ausländer vor sich hat.
Das Übernachtungsproblem klärt sich, als wir am Roten Platz die Erlanger Freunde treffen. Um schon möglichst nahe am Domodedovo-Flughafen zu sein, hatten sie ihre Zelte im Süden Moskaus aufstellen wollen. Aber auch dort ist mit "Campingplatz" nur der bewachte Parkplatz des Rus-Hotels gemeint, auf dem man sein Wohnmobil parken darf. Für wirkliches Camping fehlt jegliche Infrastruktur. In den Doppelzimmern, die sie folglich nehmen mussten, ist ein Bett noch frei.
Das zweite Bett findet sich bei Antons Bruder, ebenfalls im Moskauer Süden. Anton hatte den Bruder eigentlich nicht behelligen wollen, weil er recht beengt wohnt. Trotz guten Einkommens kann er sich zusammen mit seiner Freundin nicht mehr als eine Einzimmerwohnung leisten. Die nämlich kostet schon fast 1000 Euro Miete im Monat. Moskau gilt als teuerste Stadt der Welt. "Forbes" hat herausgefunden, dass es nirgendwo so viele Milliardäre gibt wie in dieser Metropole.
Abschied von Jörg, Walter und Gertrud
Am nächsten Morgen endet das, was vor über sechs Wochen am Rathaus in Erlangen begann: die lange Radreise nach Russland mit Gertrud, Walter und Jörg. Wir verabschieden uns vor dem Hotel. Von Domodedovo werden sie sich in die Luft erheben und nur zwei Stunden später wieder deutschen Boden unter den Füßen haben. Und ich werde mich in den nächsten Tagen einsam fühlen ohne sie.
Vom Süden Moskaus aus in die Spur nach Südosten zu kommen, ist gar nicht so einfach. Man ist umgeben von Autobahnen, ring- und sternförmig verlaufend, die nur an wenigen Stellen überquert werden können. Also beschließen Anton und ich, direkt auf dem äußeren Autobahnring zu fahren. Er ist ausdrücklich für Radfahrer verboten, hat aber sechs Spuren in jeder Richtung - da sollte doch für Radler wenigstens eine Spur frei sein.
Der Rückenwind treibt uns voran, dazu kommen die Druckwellen, die die Lastwagen vor sich herschieben. Die fahren unverschämterweise auch auf unserem Radweg! Und sie fahren nicht, sie fliegen geradezu. Unwillkürlich ducken wir uns zum Schutze, so wie ein kleines Kind die Augen schließt, um nicht gesehen zu werden. Nach zwölf Kilometern ist der Stress vorbei. Wir biegen ab und sind jetzt nur noch auf doppelspuriger Straße unterwegs.
Bereits vor Wladimir habe ich bemerkt, dass mein Tretlager etwas Spiel hat, vielleicht einen halben Millimeter Ausschlag am Kurbelende. Auf den letzten 500 Kilometern hat sich der Ausschlag weiter vergrößert.
Das Ganze ist deswegen besonders ärgerlich, weil ich das Originaltretlager des Patria-Rades vor dem Tourstart noch hatte austauschen lassen. Wegen der weltweit größeren Verbreitung sollte es ein Lager mit Vierkantachse sein. Und dieses teure Lager von Edco macht jetzt, nach gerade einmal 4.500 Kilometern, schlapp!
In der 300.000-Einwohner-Stadt Ryazan findet Anton nach längerer Suche eine kleine Werkstatt, die vielleicht helfen kann. Spezialisierte Fahrradgeschäfte gibt es auch in Städten dieser Größe nicht, man kauft sein Rad in Sportgeschäften oder sogar im Spielwarenladen.
Das erste Tretlager, das sie einbauen, ist zu kurz. Schade, denn das ist immerhin ein Shimano-Lager. Ein zweites, das sie irgendwo in der Nachbarschaft aufgetrieben haben, passt. Aber es ist ein No-Name-Teil für gerade mal 8,50 Euro. Wenn ein 100€-Tretlager 4.500 Kilometer hält, kommt man mit einem solchen Billigteil rein rechnerisch rund 400 Kilometer weit. Ich bin gespannt, wie lange es tatsächlich hält.
Zweieinhalb Tage hinter Moskau verabschiedet sich im Städtchen Schatzk schließlich auch Anton von mir. Er nimmt jetzt Kurs nach Norden und fährt zurück nach Hause. Wenn er in zwei Tagen dort ankommt, hat er eine äußerst spontane 900-Kilometer-Rundtour von Wladimir nach Wladimir beendet.
Ich verbringe unterdessen einige Tage in Schatzk, um verschiedene Dinge zu organisieren. Vor allem ein neues Tretlager muss her. Edco bekommt eine zweite Chance. Bei der Preislage kann es sich eigentlich nur um einen seltenen Materialfehler handeln. Jörg (der gleiche Jörg, der mit nach Wladimir radelte, zugleich Geschäftsführer des Fahrradladens "Freilauf" in Erlangen) hat das neue Lager bereits in der Hand. Das defekte Exemplar werde ich ihm zur Analyse zurücksenden.
In den folgenden Tagen klärt sich auch schon die Transportfrage: Eine Siemens-Kollegin aus Kasachstan fliegt demnächst über Astana nach Almaty. Sie wird das Lager im Siemens-Büro in der Hauptstadt deponieren. Dort wartet dem Vernehmen nach außerdem eine fränkische Brezel auf mich (wird eingefroren).
Am Ortsende von Schatzk ist auch das ferne Chelyabinsk schon ausgeschildert.
Entgegen der ursprünglichen Planung wird mein Weg durch Kasachstan nun also nicht am Aralsee vorbeiführen, sondern viel weiter östlich zum Siemens Office Astana. Damit ändert sich auch die Route durch Russland. Nicht bei Samara werde ich nach Kasachstan ausreisen, sondern tausend Kilometer weiter östlich nahe Chelyabinsk. Hinter dem Ural - in Asien.