Auftakt durch Mexiko über die Baja California
8.1.2015 - Guanajuato / Mexiko (37899 km)
Nordeste packt mich mit aller Kraft und lacht mir hämisch ins Gesicht: "Das hättest du dir wohl so gedacht, dass du ungeschoren über die Baja California kommst!" Er greift vorn an die Packtaschen und schüttelt mich, drückt mich nach links und gleich darauf nach rechts. Dann stemmt er sich gegen mich, dass ich beinahe stehenbleibe. Und er lacht mich wieder aus.
Viel zu lange hat mich Noroeste, auch einer aus der Familie Viento, Nordestes Bruder, auf der Baja California vor sich her geschoben. Nun ist er nicht mehr da, irgendwo auf dem Weg eingeschlafen. Die Mex-1, die Straße über die Baja California, die zwischen Pazifik und der Cortes-See hin- und herpendelt, hat derweil einen Bogen in Richtung Sonnenaufgang gemacht. Und plötzlich war Nordeste da. Der Gewaltige. Er will mir nun zeigen, dass es auch anders geht.
Oben an den Bergkuppen ist er vollkommen unberechenbar. Da dreht er sich wie ein Tanzbär, mal links herum, mal rechts herum. Wenn ihm danach ist, greift er mir wieder in das Vorderrad, manchmal aber auch nicht. Es ist nicht vorherzusehen, wann und wie er seine Kräfte einsetzt - im Schneckentempo torkele ich auf Santa Rosalia zu, als hätte ich drei Liter Cerveza intus.
Vor zwei Wochen bin ich nach Mexiko eingereist - auf dem Umweg über Tecate, um die berüchtigte Großstadt Tijuana zu umgehen. Als ich an dem unscheinbaren Grenzübergang ankomme, bin ich der einzige, der die USA verlässt. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Der Chef der Station ist sehr freundlich und auch interessiert an meiner Reise. Die "Tourist Card", die hier jeder Ausländer für 25 US-Dollar kaufen muss, gibt mir großzügige sechs Monate Aufenthaltsrecht in Mexiko.
Als die Formalitäten erledigt sind, ist es fast dunkel. Ich frage einen der Uniformierten vor der Tür nach dem günstigsten Hotel in der Stadt. Er spricht gut Englisch und beschreibt den Weg. Allerdings zeigt er nach rechts, während er "links" sagt. Ich frage nach. Er antwortet mit verschmitztem Gesicht: "Ich meine das andere ‘links‘!" - Irgendwie ist mir dieses Land von der ersten Minute an sympathisch.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist eine der kontrastreichen auf dieser Welt. Nach fünf Monaten in Kanada und den Vereinigten Staaten wirkt hier in Tecate nun plötzlich alles ziemlich heruntergekommen. Die Straßen in der Stadt sind asphaltierte Buckelpisten, die Gebäude bröckeln, die Läden erscheinen altmodisch, die meisten Autos sind abgewetzt. Auch das ist mir eigentlich nicht unsympathisch, dagegen wirken die endlosen und gleichförmigen Vorstädte in den USA eher steril.
Ryan und Allegra in der Minenstadt Santa Rosalia - getroffen haben wir uns in El Rosario (die vielen "Rosa...s" können einen in Mexiko ganz schön durcheinander bringen).
Es gab mehrere gute Gründe, die Reise durch Mexiko auf der Baja California zu beginnen. Mein weitgereister Freund Walter Költsch hatte mir schon beim Auftakt meiner Tour - als wir vor zwei Jahren zusammen mit Gertrud und Jörg nach Russland fuhren - die große Halbinsel ans Herz gelegt. Die Baja California sei landschaftlich interessant und die Bevölkerung dort sehr freundlich, und so biete dieser Weg eine elegante Möglichkeit, wenigstens auf dem ersten Drittel sicher durch Mexiko zu kommen.
Von Mexikos "Mainland" (damit ist der Rest Mexiko ohne die Baja California gemeint) gibt es hingegen seit einigen Jahren schlechte Nachrichten. Das Drogen-Chaos, das über mehr als ein Jahrzehnt Kolumbien unsicher gemacht hat, hat sich inzwischen von dort nach Norden verlagert, hierher, nach Mexiko. Die allgemeine Gewaltbereitschaft ist in der jüngeren Vergangenheit stark gestiegen. Ich muss mich darauf einstellen, einige Etappen in diesem Land per Bus zurückzulegen.
Mein Weg über die Halbinsel ist gut 1500 Kilometer lang. Obwohl die Landschaft schon im Norden Steppencharakter hat, wird zwischen Ensenada und San Quintin viel Wein angebaut. Die Felder sind schier endlos, für die Bewässerung verlaufen Schläuche durch die langen Reihen und versorgen jeden einzelnen Rebstock mit Wasser.
Daneben gibt es auch Kaktusfarmen, die wesentlich besser zum Landschaftsbild passen. Die Bauern ernten nicht nur die Kaktusfrüchte, sondern auch die dicken Blätter der Pflanzen. Sie werden auf dem Markt als Gemüse verkauft, sehen kleingeschnitten aus wie Gurken, haben aber auch etwas Pilzgeschmack an sich.
Nach ein paar Hundert Kilometern lerne ich in El Rosario Allegra und Ryan kennen, ein Radreisepaar, das seit einigen Monaten im Sattel sitzt. Ryan, der Kanadier, ist in Vancouver gestartet, seine US-amerikanische Freundin hat sich etwas später angeschlossen. Auch sie wollen nach La Paz im Süden der Baja California radeln. In den kommenden Wochen fahren wir tagsüber zwar selten zusammen, treffen uns aber abends stets an den gleichen Orten. Die Baja ist dünn besiedelt, zwischen den Dörfern und kleinen Städten liegen manchmal mehr als 100 Kilometer.
Eine Kaktusfarm im Norden der Baja California, nicht weit entfernt von den Weinfeldern im oberen Bild.
Eines Tages sehe ich in der Ferne eine Person im leuchtend-gelben TShirt, die mit dem Fahrrad liegengeblieben zu sein scheint. Mit dem Näherkommen erkenne ich, dass da kein Fahrrad liegt, sondern ein Sportkinderwagen geparkt ist. Daneben steht Jamie Ramsay, ein Schotte.
Jamie ist, wie auch Ryan, in Vancouver gestartet. Jedoch als Läufer. Sein Ziel ist Buenos Aires, wo er im Frühjahr 2016 ankommen will. Pro Reisetag legt er ungefähr die Marathon-Distanz zurück. Als er hört, dass Allegra, Ryan und ich im Dörfchen Punta Prieta übernachten werden, beschließt er, heute noch einmal 19 Kilometer draufzulegen. Er freut sich offenbar über Gesellschaft.
Mit dem Sonnenuntergang um kurz vor 17 Uhr trifft Jamie ein, während wir gerade die Zelte neben einem einfachen Restaurant aufbauen. Wir dürfen hier kostenlos übernachten, revanchieren uns dafür natürlich, indem wir unser Abendessen im Restaurant einnehmen: frische, warme Tortillas mit Rührei, Bohnenmus (Frijoles) und geschnetzeltem Fleisch. Die Unterhaltung mit Jamie ist sehr angenehm. Er ist durchaus selbstbewusst, ohne aber mit seiner unglaublichen Leistung anzugeben.
Unser Zeltplatz neben einem kleinen Restaurant in Punta Prieta. Jamie, der Schotte, läuft von Vancouver nach Buenos Aires und schiebt dabei einen Sportkinderwagen vor sich her.
Am folgenden Tag lege ich in sechs Stunden die 120 Kilometer von Punta Prieta nach Guerrero Negro zurück. Es ist nur leicht hügelig, und Noroeste schiebt mich immer noch an. Aber die schier endlosen Geraden sind eine Herausforderung, was die Motivation betrifft. Stur geradeaus durch trockene Wüstenlandschaft. Wäre da nicht der Rückenwind, wäre mehr mentale Kraft gefordert.
Jamie wird mit seinem Kinderwagen für diese Strecke zweieinhalb Tage brauchen. Der Rückenwind nutzt ihm als Läufer viel weniger als einem Radler. Auf dem letzten Abschnitt wird Jamie schnurgerade durch eine Ebene auf Guerrero Negro zulaufen, mehr als 40 Kilometer. Dort, bei Guerrero Negro, macht die Straße einen aufregenden Knick: Sie ändert die Richtung um 60 Grad und zielt nun nach Südosten. Ebenfalls schnurgerade, so weit das Auge reicht. Hinter diesem Knick also wird Jamie wieder streng geradeaus laufen, einen weiteren langen Tag, wieder über 40 Kilometer. Er wird sich von dieser aufregenden Richtungsänderung bei Guerrero Negro irgendwie beflügeln lassen müssen.
Die Gerade, die von Norden auf Guerrero Negro zuführt, ist über 40 Kilometer lang. Dann folgt ein Knick. Und dann eine weitere schnurgerade Tagesetappe für den Läufer Jamie.
So unterschiedlich sind die Menschen. Im Frühjahr 2013 machten zwei junge Deutsche mit ihren Plänen viel Wind im Internet: Sie wollten zwei Jahre lang um die Erde radeln, 55.000 Kilometer wollten sie während dieser Zeit auf dem Fahrrad sitzen. Doch schon kurz nach dem Start brachen sie auf dem Balkan ihr Unternehmen ab. Unter anderem, weil das Radeln "stupide" war. - Wie bitte? Radeln über den Balkan ist stumpfsinnig? - Einer der beiden kehrte direkt nach Deutschland zurück, der andere quälte sich radelnd bis nach Istanbul und setzte die Reise dann mit dem Flugzeug fort.
Eine 35jährige Belgierin startete mit ihrem Fahrrad im Spätsommer 2014 in München und wollte 30.000 Kilometer über Nepal nach Neuseeland reisen. Sie schaffte es bis nach Budapest. In ihren Berichten liest man, dass "einfach nichts passiert".
Und dann ist da Jamie, der Schotte, Anfang 30, der offenbar wusste, was er sich vorgenommen hat. Er rennt seit Vancouver in Richtung Süden - und derzeit rennt er tagelang geradeaus durch die Kaktuswüste in Mexiko.
Nicht überall ist die Mex-1 so abwechlungsreich wie hier.
In La Paz verabschiede ich mich von Ryan und Allegra. Drei Wochen haben wir miteinander verbracht. Eine schöne Zeit, ich werde die beiden vermissen. Ryan spielt mit dem Gedanken, mich in gut einem Jahr durch den Süden Afrikas zu begleiten.
Zum Jahreswechsel fliegen sie nun nach Hause. Ich nehme in La Paz die Fähre nach Topolobampo und radele von dort südwärts nach Mazatlán. Der Plan ist, zwei oder drei Tage im Hostel "Funky Monkey" zu verbringen, um dann über Weihnachten in Guadalajara zu sein.
An der Cortes-See auf der Ostseite der Baja California. Die Wohnwagen- und Wohnmobil-Besitzer sind fast ausschließlich US-Amerikaner. Viele überwintern hier, sie werden als "Snow Birds" bezeichnet.
Aus den zwei, drei Tagen in Mazatlán werden fast zwei Wochen. Je näher Weihnachten kommt, desto besser gefällt mir die Idee, die Feiertage in dieser heimeligen Unterkunft zu verbringen. Was für ein Kontrast: Letztes Jahr im Süden Indiens, auf dem Weg von Hampi nach Bangalore, spielte Weihnachten für die Menschen um mich herum überhaupt keine Rolle. Das war okay, ich holte mir am Heiligen Abend auf der Straße frittiertes Gemüse im Teigmantel (sehr gut - wie allgemein das Essen in Indien!) und ein paar Flaschen Kingfisher-Bier. Der Tag war ansonsten wie jeder andere Tag davor und danach.
Aber dieses Jahr, im katholischen Mexiko und umgeben von europäischen und nordamerikanischen Reisenden, kommt dann doch ein wenig Weihnachtsstimmung auf. Heiligabend wird es Truthahn, Kartoffelgratin und Gemüse geben, gemeinsam zubereitet von der Wohngemeinschaft des Hostels. Mir gibt man den Auftrag, etwas Deutsches beizusteuern. Da mir nichts besseres einfällt, serviere ich einen griechischen Salat. Niemand erkennt den Schwindel - es ist halt ein europäischer Salat. Und immerhin liegen Athen und Frankfurt näher beieinander als beispielsweise das mexikanische Cancun und das mexikanische Mazatlán.
Zac (links) und Salem - der Betreiber des Hostels - beim Zubereiten des Weihnachtsessens.
Letztes Jahr verbrachte ich den Heiligen Abend in einer 4€-Unterkunft im Süden Indiens. Das Festmahl - frittiertes Gemüse im Knuspermantel - ließ sich an einem Imbissstand auf der Straße organisieren.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag reiße ich mich los aus der bequemen Welt des Hostels. Den Jahreswechsel verbringe ich bei einem kurzen Zwischenstopp in Guadalajara, der zweitgrößten Stadt Mexikos, die 1600 Meter über dem Meer im zentralen Hochland liegt.
Von hier aus geht es weiter durch das Hochland nach Guanajuato, wo Anfang des 19. Jahrhunderts der Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier begann, danach zu den großen Pyramiden von Teotihuacan. Für die nächsten Wochen ist also Kultur angesagt.