(Kanada)
2.8.2014 - Squilax / Kanada (28678 km)
Die Ortschaften in Kanada sind weit gestreut. Jenseits von Prince Rupert ist Terrace nach 140 Kilometern die erste Siedlung. Dazwischen schier endlose Wälder, Seen und der zweispurige Highway 16, der sich zunächst am Skeena-Fluss entlang den Weg durch die Berge bahnt. Auch weiter im Osten liegen meist 60 bis 80 Kilometer zwischen den Ortschaften, die oft nur einige Hundert Einwohner groß sind.
Und in dieser Weite passiert es ausgerechnet in einem Siedlungsgebiet, am Ortseingang von Houston, dass mir der erste Bär über den Weg läuft. Ich muss abbremsen, weil sich das ausgewachsene Tier nicht um die Regeln schert und einfach so über die Straße marschiert. Bevor ich Bärspray oder Fotoapparat hervorholen kann, ist der Schwarzbär auch schon wieder auf der anderen Straßenseite im Gebüsch verschwunden.
Am folgenden Tag begegnen mir weitere Bären in einsamerem Gebiet. Sie streifen im hohen Gras neben der Erdpiste umher und fliehen, als ich näherkomme. Eine Elchkuh mit ihrem Kleinen ist weniger schreckhaft. Sie dreht sogar um und steuert auf mich zu. Ich drehe besser auch um und fahre ein paar Meter zurück, bis die beiden im Dickicht abgetaucht sind.
Mein Bärspray und das 15-Meter-Seil, mit dem ich abends die Lebensmittel in die Bäume hieven kann.
Bei Houston habe ich die Hauptstraße verlassen und radele eine südlichen Schleife auf einer Logging Road, über die Baumstämme aus der Tiefe der Wälder herausgeholt werden. Hier sind fast ausschließlich schwere Holztransporter unterwegs, die etwa alle Viertelstunde vorbeikommen und ordentlich Staub aufwirbeln.
Den Weg durch die Wälder hat mir gestern Abend der Campingplatzbesitzer in Houston beschrieben. Auf den Kilometer genau konnte er sagen, wo ich abbiegen muss, um den Francoise Lake nicht zu verpassen. Da er sich so gut auszukennen schien, fragte ich auch nach, ob es hügelig ist. "Nein, nein", meinte er, alles flach. Das klang schlüssig, denn die Piste folgt auf den ersten 50 Kilometern dem Morice River.
Der Packsack mit den Lebensmitteln in fünf Metern Höhe.
Aber wenn du einen Kanadier fragst, ob der bevorstehende Weg bergig ist, dann solltest du dir vorher sein Auto anschauen. Hat er - was unwahrscheinlich ist - einen alten VW-Bus oder einen alten Käfer, kannst du seinen Schilderungen vertrauen. Fährt er aber einen dieser monströsen Pickups (einen "Truck", wie sie ihn nennen), der mit 300 bis 400 PS ausgestattet ist, dann ist für ihn jeder Weg flach, solang er sich nicht in Serpentinen windet. Als ich nach gut 70 Kilometern in Noralee am Francoise Lake ankomme, haben sich durch ständiges Auf und Ab bereits 720 Höhenmeter angesammelt.
Die Dame in dem kleinen Café, das zugleich Einkaufsladen und auch Campground Office ist, zählt auf meine Nachfrage durch, wie viele Menschen in Noralee leben. Sie kommt auf 29 inklusive einiger deutscher Einwanderer.
Ohne ihr Auto gesehen zu haben, frage ich auch, ob es denn am Francoise Lake entlang und dann zurück zum Highway nach Burns Lake vielleicht wirklich eben ist. Und ich bitte sie indirekt und vorsichtig, doch genau nachzudenken - indem ich erwähne, dass der Campingplatzbetreiber in Houston mit seiner Einschätzung ja ganz schön daneben gelegen hat.
Am Francoise Lake
Sie schaut ins Internet und findet heraus, dass Noralee 200 Meter höher liegt als Houston. War doch also ganz klar, dass es da bergauf geht.
"Nun ja", wende ich ein, "hauptsächlich waren es die vielen Hügel, die die 700 Höhenmeter eingebracht haben."
Hört sie mich nicht? Sie sucht weiter im Internet und erklärt, dass Burns Lake 150 Meter tiefer liegt als Noralee. "Nach Burns Lake geht's nur noch bergab", verkündet sie leichtfertig. Aber ich strampele weiter auf und ab. Am Abend stehen in Burns Lake neben den 150 Kilometern fast 1400 Höhenmeter auf dem Tacho. "Eben" ist für mich anders. Ich werde der Dame für ihre nächste Europareise eine kleine Radtour von München nach Venedig empfehlen. 500 Meter Höhendifferenz - also einfach nur rollen lassen.
Squirrel
Während es im Westen eher feucht und kühl war, erwischt mich bei Prince George die erste Hitzephase mit deutlich über 30 Grad. Insgesamt werde ich in drei solcher heißen Perioden hineingeraten, mit dem Maximum in Lytton bei 39 Grad. Das hatte ich in Kanada nicht erwartet.
Jenseits von Prince George gibt es auf gut 200 Kilometern keine Versorgungsmöglichkeit. Man muss sich hier jedoch nur mit Essensvorräten eindecken, da man das Wasser aus den Creeks - Bächen und kleinen Flüssen - bedenkenlos trinken kann. Wichtig ist, dass das Wasser schnell fließt und kühl ist. In stilleren Gewässern droht Giardiasis, das sogenannte Beaver Fever, das mit hartnäckigem Durchfall verbunden ist.
Mit zwei Kilo Nüssen, Trockenfrüchten und Müsliriegeln breche ich in Prince George auf in Richtung Rocky Mountains. Es ist Ferienzeit in Kanada, unzählige Wohnmobile und Wohnwagengespanne sind unterwegs. So viele, dass anzunehmen ist, dass alle Häuser in Kanada derzeit leerstehen. Und bei der Größe der Wohnmobile und -anhänger fragt sich, ob die Besitzer überhaupt noch ein Haus brauchen.
Der Highway 16 ist auch "Die Landstraße der Tränen". Mehr als 40 Mädchen und Frauen sind hier verschwunden.
Auf dem Campingplatz in Prince George hatte ich die Gelegenheit, mich in einem dieser typischen Wohnmobile umzuschauen. Es ist etwa so groß wie bei uns in Deutschland ein Stadtbus. Die Besitzer, ein sehr freundliches südafrikanisches Ehepaar, das seit vier Jahren in Kanada wohnt, hatten mich zum Abendessen eingeladen, noch bevor ich das Zelt aufbauen konnte. Gleich hinter der Eingangstür ihres fahrbaren Palastes sinkt man im Wohnzimmer in tiefem Teppichboden ein. Eine Zweisitzercouch und ein Sessel stehen sich gegenüber, dazwischen viel Platz, weil die Seitenwand des Mobils hier ausfahrbar ist. Auf dem Weg ins Heck wird es hinter der Küche auf ein paar Metern enger. Dan öffnet eine Tür auf der rechten Seite: die Toilette. - "Was denn? Keine Dusche?" - "Doch, doch, kommt noch."
Er zieht links eine Schranktür auf, die Waschmaschine kommt zum Vorschein, volle Baugröße, wie man sie zu Hause hat. Hinten wird es wegen weiterer Ausziehelemente wieder breiter. Wir durchschreiten das Schlafzimmer mit seinem großzügigen Doppelbett, dahinter findet sich die Dusche, die ich bis hierher vermisst hatte. Sie sind autark und dabei alles andere als eingeengt.
Was man sonst noch so braucht, ziehen die Wohnmobile an einem festen Gestänge hinter sich her.
Und weil man solch ein riesiges Fahrzeug - wenn es erst einmal mit all den ausgefahrenen Seitenteilen auf dem Campingplatz steht und nivelliert ist - nicht zwischendurch für kurze Ausflüge und Einkäufe wieder fahrfertig machen möchte, ziehen viele Wohnmobile noch einen Zweitwagen an festem Gestänge hinter sich her, nicht selten einen Pickup oder ein SUVlein.
Auf den kanadischen Überlandstraßen radelt es sich äußerst entspannt, da es fast überall breite Seitenstreifen gibt, "Shoulders", wie sie im englischsprachigen Raum genannt werden. Seit der Einreise nach Kanada fühle ich mich unbeschwert: durch die Sicherheit auf den Straßen, die Weite der Landschaft, die kaum berührte Natur, die geringe Bevölkerungsdichte. Und befreit insbesondere auch deswegen, weil mich nun keine Visumlaufzeiten mehr hetzen. Während der zwölf Monate in Asien drehten sich die Gedanken ständig um die verbleibende Zeit in dem Land, das ich gerade durchradelte, und um die Beschaffung der Visa für die bevorstehenden Staaten. Auf dem weiteren Weg von Kanada nach Süden muss ich nun allein die Jahreszeiten im Blick behalten, um extremes Wetter in Mittel- und Südamerika zu vermeiden.
Felder bei McBride - auf den Bergen liegt Schnee, hier unten herrschen 35 Grad.
210 Kilometer südöstlich von Prince George erreiche ich McBride, den ersten Ort, in dem man wieder einkaufen kann. Ich versorge mich nur für den Abend, denn die nächsten Ortschaften sind nicht weit. Morgen fahre ich durch diese wunderbare Berglandschaft, die westlichen Ausläufer der Rocky Mountains, ganz gemütlich nur die 80 Kilometer über Tete Jaune Cache nach Mt. Robson.
Noch vor der Abzweigung bei Tete Jaune Cache begegnet mir ein junges Radreise-Pärchen aus Hongkong. Eher zufällig erfahre ich von ihnen, dass es in beiden Orten keine Einkaufsmöglichkeiten gibt. Tete Jaune Cache ist nur eine Ansammlung weniger Häuser, Mt. Robson - ebenfalls wie ein Dorf in den Landkarten eingezeichnet - ist nur das Informationszentrum des gleichnamigen Nationalparks. Die Lösung heißt: Von Tete Jaune Cache einen Abstecher nach Valemount machen, 20 Kilometer hin und 20 Kilometer wieder zurück - allein wegen des Einkaufs.
Am zweiten Tag auf dem Icefields Parkway kommt ab und zu die Sonne heraus.
Die Tage im Jasper-Nationalpark verlaufen nicht optimal. Der Weg zum Gipfel des Whistler oberhalb von Jasper ist just ab dem Tag meiner Ankunft gesperrt, weil dort ein Puma gesichtet wurde. Mit der teuren Bergbahn möchte ich nicht hinauffahren, denn die Aussicht ist durch den Rauch schwerer Waldbrände im Süden stark eingeschränkt. In den darauffolgenden Tagen gibt es einen Temperatursturz, es wird regnerisch und kalt. Immerhin löscht der Regen die Feuer und sichert mir die Weiterfahrt nach Süden (die Straße war zeitweise nicht passierbar), aber der Icefields Parkway präsentiert sich nass und kalt, und leider ist so nicht zu erkennen, dass dies die "schönste Straße der Welt" ist.
Beim Erklimmen der beiden 2000-Meter-Pässe muss ich an Frank denken, den Schiffsagenten, der mich bei der Einreise in Prince Rupert betreut hat. Von Jasper nach Banff, das sei die richtige Richtung, hatte er gemeint. Bergab, denn Jasper liegt höher als Banff. Ich werde auch Frank den Downhill-Parcours von München nach Venedig ans Herz legen.