Atacama

(Bolivien / Chile)

5.11.2015 - Santiago de Chile (52753 km)

Frühmorgens gegen sechs Uhr wache ich auf, weil das Bett schaukelt. Die Erde bebt. Die Familienfotos auf dem Tisch neben dem Bett schwingen hin und her. Das erste Mal, dass mich ein Beben nachts überrascht. Schnell hinauslaufen kann ich nicht, denn der Tisch mit den schwankenden Fotos und das Bett stehen im 24. Stockwerk eines Hochhauses in Santiago de Chile.

Mein Gastgeber Pedro und ich haben gestern bis tief in die Nacht hinein gequatscht und dabei einige Flaschen Bier geleert. Das Bier und die Tatsache, dass der Weg hinaus auf die Straße viel zu weit ist, führen zu einer beruhigenden Gleichgültigkeit. Nach einigen weiteren Erdstößen schlafe ich wieder ein.

Pedro weiß am Morgen aus den Nachrichten, dass es ein Erdbeben der Stärke 6,8 war und das Zentrum des Bebens etwa 400 Kilometer nördlich der Hauptstadt bei La Serena lag. Ein relativ harmloses Beben, Menschen sind nicht zu Schaden gekommen.

Seit fünf Wochen bin ich nun schon in Chile, diesem langen, schmalen Land. Mehr als 4000 km misst Chile von Norden nach Süden, aber an den meisten Stellen ist das Land nur 100 bis 200 Kilometer breit. Nachdem der Touristenrummel auf dem Salar de Uyuni in Bolivien so unerwartet hoch war, habe ich auf die Lagunenroute südlich des Salars verzichtet und bin auf dem kürzeren Weg über Ollagüe nach Chile eingereist.

Die Piste bis zur Grenze ist mitunter sehr mühsam, mal bremsen ausgeprägte Waschbrettstrukturen, mal besteht die Straße aus groben Steinen, mal muss ich das Fahrrad durch tiefen Sand zerren. Aber dann wieder ist salziger Erdboden über viele Kilometer so glatt und fest wie Asphalt. Insgesamt hatte ich mir den Weg nach Ollagüe schwieriger vorgestellt.

Der Südwesten Boliviens ist einsam. Auf den 70 Kilometern von San Juan bis zur Grenze gibt es keinen weiteren Ort. Nur eine kleine Militärstation, an der man auch Wasser bekommen kann, wie ich hörte. Ich sehe die Gebäude nur aus der Ferne, weil der kürzeste Weg nach Ollagüe auf der weiten Ebene an der Station vorbeiführt. Auf dem festen Boden kann man auf etlichen Kilometern Breite fahren, wo man will.

Autos sehe ich nur am frühen Morgen. Gleich hinter San Juan haben mich ein paar Geländewagen mit Touristen auf dem Weg zu den Lagunen überholt. Unsere Wege trennen sich in der Nähe der Militärstation, die Lagunenroute führt von dort nach Süden, meine nach Westen. Stundenlang begegnet mir nun kein Auto mehr; allerdings sehe ich an diesem Tag drei Mal Güterzüge. Einer der Züge spiegelt sich weit entfernt in der bodennahen Luft. Die beiden anderen überholen mich neben der inzwischen wieder ruppig gewordenen Wellblechpiste. In dieser Einsamkeit ist jeder ein Freund. Die Lokführer hupen mir zu, ich winke zurück.

Auf der bolivianischen Seite der Grenze ist die "Migración" geschlossen, ein Container, der bei einer einsamen Bahnstation in der Wüste steht. Es ist 14:30 Uhr. Machen die etwa Mittagspause? Das wäre ärgerlich, ich habe keine große Lust, hier im Nichts herumzusitzen und zu warten. Mehrmals klopfe ich an die Tür des Containers. Dann endlich öffnet sie sich, ein recht freundlicher Mann schaut heraus. Er fragt nach der Richtung, Einreise oder Ausreise? - "Nach Chile." - Er sucht in meinem Pass den bolivianischen Einreisestempel, setzt seinen Ausreisestempel daneben. Das war's. "Gute Reise."

Ein Güterzug im einsamen Andenhochland. Der Lokführer freut sich und hupt mir zu.

Für die fünf Kilometer bis zum chilenischen Grenzposten brauche ich mehr als eine halbe Stunde. Inzwischen hat wieder der Nachmittagswind eingesetzt, Sturm fast schon, der mir üblicherweise aus Südwesten ins Gesicht bläst - unvermittelt, aber zuverlässig kommt er täglich zwischen 12 und 14 Uhr. Ein erster kurzer Windstoß, und gleich danach schaltet das Gebläse auf Dauerbetrieb. Es ist ein zermürbender Kampf auf der offenen Hochebene gegen diesen heftigen Wind.

Die Ein-/Ausreisebehörde auf der bolivianischen Seite

Exakt an der Stelle, wo ein Stahltürmchen die Grenzlinie markiert, beginnt Asphalt. Als wollte Chile seine Überlegenheit gegenüber Bolivien demonstrieren. Nach ein paar Hundert Metern allerdings zerfällt der Traum auch schon wieder. Die Asphaltoberfläche ist so sehr zerbröselt, dass sich neben der Straße schmale Pisten gebildet haben, die trotz ihrer Wellblechstruktur besser zu befahren sind.

Die Migración auf der chilenischen Seite wirkt auf den ersten Blick wie ein Freizeitzentrum: In der kleinen Halle stehen eine Tischtennisplatte und ein Kickertisch. Aber niemand ist dort. Ich laufe auf und ab, schaue durch die Fenster in abgetrennte Kabinen, bis endlich ein Offizieller aus einem Hinterzimmer erscheint. Er erklärt mir die Stationen, die zu durchlaufen sind. Zuerst bräuchte ich den Einreisestempel. Er zeigt auf eine der Kabinen. - Ist aber doch zu!? Keiner da. - Er kommt herbei und drückt weit oben auf eine Klingel. - Okay, die hättet Ihr ja auch etwas offensichtlicher installieren können. - Tatsächlich weckt die Klingel jemanden auf. Der Mann hinter dem Schalter überträgt die Passdaten in den Computer, fertig.

Die Gemeindehalle des Dörfchens Ollagüe ist eine Mischung aus Gürteltier und Sydney-Oper.

Dann folgt eine Prozedur, die ich so scharf bisher nur auf der letzten großen Reise in Neuseeland kennengelernt habe: Ein dicht bedrucktes DIN A4-Formular für den Seuchenschutz und für den Zoll ist auszufüllen, eine Deklaration, was man an frischen Lebensmitteln und an "Wertsachen über den normalen Bedarf hinaus" einführt. Bei falschen Angaben drohen 200 US-Dollar Strafe. Gut, dass ich wegen einiger Kleinigkeiten zwei Mal "Ja" ankreuzen kann. Das sollte mich doch eigentlich ehrlich erscheinen lassen. Bei den Lebensmitteln sind es ein paar Coca-Blätter und ein halbes Kilogramm Erdnüsse, die ich deklarieren muss. Wenn sie mir die Erdnüsse wegnehmen, wäre das allerdings ärgerlich, denn die sind mein Hauptproviant für die kommenden Tage ohne Versorgungsmöglichkeiten. Beides stellt aber kein Problem dar.

Bei "Wertsachen über den normalen Bedarf hinaus" (definiert in vielen kleinen Buchstaben auf der Rückseite des Formulars) kreuze ich "Ja" an, weil ich mehr als nur einen Fotoapparat dabei habe. Der Beamte fragt aber gar nicht nach dem Grund für das "Ja", sondern nimmt gleich an, dass ich das Fahrrad meine. Es wird auf ein registriertes Beiblatt eingetragen, das ich bei der Ausreise wieder abgeben muss: Er notiert die Marke des Rades, die Farbe und die Größe der Felgen. Dass "Patria" eine deutsche Firma sein soll, ist für ihn schwer zu glauben. Das ist doch Spanisch - und bedeutet "Heimat"!

Der Vulkan Ollagüe köchelt ständig vor sich hin.

Zum Schluss kommt eine kräftig gebaute Beamtin herbei, die die Packtaschen kontrolliert. Zwei Kollegen rücken zugleich mit einer großen blauen Tonne für die Abfälle heran! "Nein, nein, nein!" wehre ich mit ausgestreckten Armen die Tonne ab, mache dabei aber ein freundliches Gesicht. Sie lächeln zurück. Die Stimmung ist insgesamt sehr entspannt, die Herrschaften sind alles andere als schikanös.

Die Dame findet in den Packtaschen die von mir angegebenen Coca-Blätter und die Erdnüsse. Die Keksrollen, die ich vergessen hatte, sind für sie auch harmlos. Jede einzelne Tasche wird durchsucht - die große blaue Tonne bleibt am Ende trotzdem leer.

Vulkane und Salare begleiten den Weg nach Calama.

Da ich nun früher als geplant nach Chile eingereist bin, habe ich noch reichlich Geld aus Bolivien übrig. Normalerweise finden sich an den Grenzen Händler, die zu einem fairen Kurs Geld umtauschen. In Ollagüe jedoch ist weder direkt an der Grenze noch im Ort ein Geldwechsler aufzutreiben. Man sagt mir, es hätte früher Leute im Dorf gegeben, die Bolivianos in Pesos tauschen, zu einem Kurs von 1:80. Reell wäre ein Kurs von 1:100. Jetzt aber finde ich niemanden mehr. Und man prophezeit mir, dass es in Calama, der ersten Stadt auf dem Weg nach Süden, noch schwieriger wird.

Die 200 Kilometer bis dorthin sind ebenso einsam wie der Südwesten Boliviens. Landschaftlich bleibt es weiterhin reizvoll. Zunächst führt die Piste am ständig rauchenden Vulkan Ollagüe vorbei, dann am Ufer zweier Salare entlang. An einigen Stellen steht Wasser auf der Salzfläche, dort tauchen Flamingos auf der Suche nach Fressbarem ihre Schnäbel ein. Auch einige Vicuñas sind unterwegs. Erst kurz vor Calama wird die Atacamawüste eintönig. Das soll sich auf den nächsten 1000 Kilometern auf dem Weg nach Süden auch nicht mehr ändern.

In der Wüste ist eine Couch immer willkommen.

In Calama werde ich meine Bolivianos in einer offiziellen Wechselstube doch noch los, für den gleichen schlechten Kurs, den es früher in Ollagüe gegeben haben soll. 20 Prozent Verlust - das ist traurig, aber zu verschmerzen.

Die Atacama ist die trockenste Wüste der Erde. Die Zuflüsse aus den Anden kann man hier an einer Hand abzählen. Weiter nördlich, in Peru, gibt es wesentlich mehr Flussoasen. Zwischen Antofagasta und Chañaral erstrecken sich in Chile gut 400 Kilometer ohne eine einzige Ortschaft; nur ab und zu taucht ein Minen-Camp oder eine "Posada" auf. In diesen kleinen Restaurants werden Getränke und einfache Mahlzeiten angeboten. Wasser wird den Posadas in Tanklastwagen angeliefert.

Über die Zahlen auf den Kilometerschildchen - gerechnet bis Santiago - denkt man besser nicht so genau nach.

Der weiteste Abstand zwischen zwei solchen Versorgungspunkten ist zwischen Antofagasta und Chañaral 110 Kilometer lang, so dass also auch ein Radler keine logistischen Probleme hat. Außerdem fahren genügend Autos auf der Panamericana, es besteht keine Gefahr, hier zu verdursten. Körperlich zu verdursten. Aber im Kopf kann es durchaus trocken werden. "Was macht man auf einer so langen, eintönigen Strecke?" wurde ich schon oft gefragt. - Man denkt nach. So wie man nachdenkt, wenn man von München nach Hamburg allein auf der Autobahn unterwegs ist. Man denkt über Fehler der Vergangenheit nach, über Pläne für die Zukunft. Irgendwann allerdings hat man fertiggedacht. Dann muss man versuchen, sich an der winzigsten Veränderung in dieser tristen Landschaft zu erfreuen.

Auch die Freude über eine gute Nachricht aus den letzten Tagen recycle ich mehrmals: Es hat sich nun doch ein Frachtschiff nach Afrika gefunden, das Passagiere mitnimmt. Lange sah es so aus, als würde ich über den Atlantik fliegen müssen. Wie schon erwähnt, ist es keine Flugangst, die mich plagt. Es geht mir nur einfach darum, auch zwischen den Kontinenten langsam zu reisen. Das Containerschiff, das ich jetzt über eine Agentur in Wuppertal gefunden habe, wird Mitte März in der Nähe von Rio de Janeiro ablegen und rund zehn Tage später in Kapstadt ankommen.

Atacama Camping

Das lässt mir Zeit, in Chile noch ein gutes Stück nach Süden zu radeln. Irgendwo werde ich nach links abbiegen, durch Argentinien Richtung Nordosten fahren und auf dem Weg nach Brasilien möglichst auch noch Uruguay und Paraguay mitnehmen.

Chañaral gibt ein trauriges Bild ab. Der ufernahe Teil der Stadt wirkt verlassen, geisterhaft. Fenster und Türen vieler Häuser sind mit Brettern vernagelt. Ein kleines Sportstadion sieht aus, als sollte es demnächst abgerissen werden. Vor einem Monat - so erklärt man mir - gab es hier ein schweres Erdbeben der Stärke 8,3 und nachfolgend einen Tsunami. Kurz davor hatten extreme Regenfälle und dann eine Flutwelle aus den umliegenden Bergen der Kleinstadt schon zugesetzt. Das Wetter spielt in diesem Jahr verrückt, El Niño ist wieder da und sorgt dafür, dass es im Norden Chiles viel mehr regnet als üblich, während im Süden eine leichte Dürre herrscht.

Die Richterskala ist nicht linear, was das subjektive Empfinden und die Schäden durch ein Erdbeben betrifft. Eine Stärke von 8,3 ist zerstörerisch. Die 6,8 an dem frühen Morgen in Santiago wiegen mich nach einem kurzen Schreck nur wieder in den Schlaf.

 
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