Aufgeweckt

(USA)

15.9.2014 - Davis / USA (31585 km)

Meinen zweiten Geburtstag während der Tour de Friends verbringe ich in Beaverton/Oregon zu einem guten Teil am Computer. Nachdem mir in Vancouver die Kreditkartendaten gestohlen worden sind, muss ich nun glaubhaft machen, dass ich nichts mit der nachfolgenden 1200-US$-Abhebung in Las Vegas zu tun habe. Verschiedene Formulare sind auszufüllen, die Visa Card muss telefonisch gesperrt werden, danach soll ich sie zerschneiden und ein Foto von der entwerteten Karte nach Deutschland schicken. Auch Anzeige ist zu erstatten, sie wird an die Polizei in Erlangen weitergeleitet. Wenige Wochen später wird man mir mitteilen, dass die Täter nicht ermittelt werden konnten. Sonderlich überrascht bin ich nicht.

(Ungefähr zur gleichen Zeit wird auch der abgehobene Betrag erstattet.)
Mit der Ankunft in Vancouver lag die heile Welt hinter mir. Das ländliche Kanada, aber auch die wenigen Städte, die ich sah, waren das Paradies, zumindest scheinbar frei von Schlechtem. Nirgendwo hatte ich Sorge, dass man mir tagsüber etwas vom Fahrrad oder abends etwas aus dem Zelt nehmen würde.

Ab und zu begegneten mir Menschen, die mich ein wenig unsicher machten, die ein unstetes Leben führen, beinahe von der Hand in den Mund leben. Männer im Alter zwischen 30 und 55, die mit ihrem abgenutzten Pickup und einigem Werkzeug auf der Ladefläche unterwegs durch Kanada sind, um irgendeine Arbeit zu finden. Als Schweißer, Koch, Zimmermann auf einer Farm oder in einem Minen- oder Erdöl-Camp. Arbeit morgen wäre nicht schlecht, aber nächste Woche wäre auch okay, bis dahin würden die Vorräte schon noch reichen. Niemand von diesen Wanderarbeitern wirkte überglücklich, doch sie schienen mit ihrem Schicksal einverstanden zu sein, ohne Neid auf die Reichen, die auf dem Campingplatz mit ihren dicken Wohnmobilen gleich nebenan standen. Und schließlich bietet diese unverbindliche Lebensform ja auch ein gewisses Maß an Freiheit.

Vancouver

 

Ich fühlte mich also sicher in Kanada. Aber der Datenklau in Vancouver weckte mich auf. Schon kurz vor der Ausreise in die USA hatte ich das Paradies verlassen.

Auf die Grenze war ich sehr gespannt. Würde mir der US-Seuchenschutz einen Teil der Lebensmittel abnehmen? Wie damals, 1999, bei der Zwischenlandung in Chicago, als ich nach Seattle flog, um meine Freundin Libby zu besuchen? Mit im Gepäck war neben meinem Fahrrad eine große fränkische Leberwurst für Libby. Völlig naiv, das mit der Leberwurst, wie ich inzwischen längst weiß. Der Wächter, der dafür zu sorgen hatte, dass keine Seuchen nach Amerika eingeschleppt werden, nahm sie mir umgehend ab.

"Und die essen Sie dann heute Abend selbst?" fragte ich ihn lächelnd.

"Ich würde sie nicht einmal meinem Hund geben!" war seine herzliche Antwort. Welcome to the United States of America!

Auch war ich jetzt gespannt, ob es Fragen zu meiner Afghanistan-Durchquerung 2004 geben würde. Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass die US-Behörden bestens informiert sind. Und das US-Militär hatte schon damals meine Berichte auf der Homepage aufmerksam verfolgt (siehe Zugriffsstatistik - hier).
Tatsächlich gibt es ein ausführliches Interview mit einem Beamten am USA-Einreiseschalter. Afghanistan ist allerdings kein Thema. Zunächst fragt er beiläufig nach der Technik: ob ich denn meine elektronischen Geräte mit dem Nabendynamo laden könne (kann ich - siehe hier). Es macht den Eindruck, als sei er privat sehr interessiert an meiner Reise. Aber ist er es wirklich? Oder ist das eine geschickte Taktik? Ich lasse mich nicht zum Labern verleiten und antworte sachlich und knapp.

Wie lange ich in den USA bleiben wolle, fragt er.

"Ca. drei Monate."

Er horcht auf und wiederholt: "Ca. drei Monate?"

"Ja. Genaugenommen knapp drei Monate. Ich habe kein Visum, daher kann ich wohl nur 90 Tage bleiben."

"Das ist richtig." Er betont, dass es wirklich nur 90 Tage sind, nicht etwa drei Monate: bis zum 16.11.2014. Bei Überziehung drohen Strafen, mahnt er. Üblicherweise ist das wohl ein Wiedereinreiseverbot für mehrere Jahre.

Wo ich ausreisen wolle, fragt er weiter, wie lange ich schon unterwegs sei und wie lange ich noch unterwegs sein würde. Ich beantworte alles wahrheitsgemäß und ohne Zögern. Die klaren Pläne und die festen Aussagen scheinen vorteilhaft zu sein. Ich muss weder Liquidität noch ein Rückflugticket vorweisen. Der Knabe wird mir langsam sympathisch.

Der belgische Tourist neben mir hat weniger Glück mit seinem Interview-Partner. Obwohl der Belgier - wie ich - überland nach Mexiko weiterfahren will, muss er sein Heimflug-Ticket (aus Panama!) hervorkramen.

Nun geht es um die Lebensmittel. Mein sympathischer Freund möchte wissen, was ich aus Kanada einführe. Ich erzähle ihm, was mir einfällt: Erdnüsse, Käse, Müsliriegel. Er fragt gezielt nach Fleisch, Früchten und Pflanzen. Ich verneine. Er glaubt mir und verzichtet auf eine Gepäckkontrolle. Ich darf weiterziehen.

Hier bin ich also, zum zweiten Mal - Welcome to the United States of America!

Die Space Needle in Seattle

 

 

Auf dieser anderen Seite der Grenze wird offener sichtlich, dass das Paradies hinter mir liegt. An einem einzigen Nachmittag sehe ich in den USA mehr Obdachlose als in den vergangenen zwei Monaten in Kanada. Bei einer Tankstelle bietet mir ein abgerissener Typ ein kiloschweres Werkzeug-Set an. Für nur zehn Dollar. Ein Superpreis. Warum ich es denn nicht kaufen will, wundert er sich. Kein Zweifel, dass das Set gestohlen ist.

Und dann Seattle, die gute Stadt, verbunden mit den schönen Erinnerungen an Libby. 15 Jahre später wird Seattle nun plötzlich furchterregend. Im Youth Hostel schildert ein junger Kanadier, wie er am Vorabend in unmittelbarer Nähe der Unterkunft überfallen worden ist. Das Messer am Hals überredete ihn schnell, die 50 Dollar herzugeben, die er bei sich hatte. Nur 50 Dollar, und nichts weiter passiert - er ist sehr froh darüber. Und ich drehe an diesem Abend den inneren Alarmsensor auf "mittel".

Sackgasse! - In den USA haben sie es offensichtlich schon länger gewusst.

 

Seattle stellte sich dieses Mal also aus einer ganz anderen Perspektive dar. Libby habe ich übrigens nicht besucht. Sie hat seit ein paar Jahren einen neuen Nachnamen (ungleich "Smolka"). Da wollte ich besser nicht stören.

Nachdem ich in Beaverton die Formalitäten bezüglich der geknackten Visa Card erledigt habe, fahre ich weiter Richtung Kalifornien. Charles, Warm Showers-Mitglied und begeisterter Reiseradler, der mich netterweise kurzfristig für zwei Tage bei sich aufgenommen hat, begleitet mich auf seinem neuen Trike noch eine gute Stunde lang nach Süden. Dann bin ich wieder allein unterwegs und folge dem weiten, fruchtbaren Tal des Willamette Rivers über Salem bis nach Eugene, wo ich nach Westen Richtung Pazifikküste schwenke. Bei Florence erreicht die Straße schließlich den berühmten Highway 101 ("one-o-one"), einen Abschnitt der Panamericana, der "Traumstraße der Welt".

Charles aus Beaverton hat mich noch 20 Kilometer nach Süden begleitet.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Ranger im Honeyman State Park südlich von Florence meint, dass ich genau an der richtigen Stelle auf den HW 101 gestoßen sei. Weiter im Norden sei der Highway nämlich sehr eng und daher gefährlich für Radler, aber von hier aus gebe es meistens einen breiten Seitenstreifen. So war das auf meiner bisherigen Route durch die USA fast überall. Ich bin eh überrascht: Das Land ist insgesamt viel fahrradfreundlicher als erwartet.

Blick vom legendären Highway 101 nach Westen

Herausragend diesbezüglich ist Davis, eine 65.000-Einwohner-Stadt nahe Sacramento. Sobald man nach Davis einfährt, ist man umschwirrt von unzähligen anderen Radlern, geradezu unwirklich in den motorisierten Vereinigten Staaten. Diese amerikanische Stadt steht fahrradfreundlichen deutschen Vorzeigestädten wie Münster oder Erlangen in nichts nach.

Ich bin bei Ulrike eingeladen, der Schwester meines Erlanger Freundes Martin. Sie lebt seit fast 20 Jahren hier, ist habilitiert und arbeitet an der Universität von Davis. Wir haben uns bei Martins rundem Geburtstag 2012 in Erlangen kennengelernt und schon damals verabredet, dass ich Ulrike auf meiner zweiten Weltumradlung besuchen würde. Zusammen mit ihrem Professoren-Kollegen Thomas Jue hat sie nun ein buntes Programm für meinen Aufenthalt in Davis ausgearbeitet.

Auch das sollte in Deutschland eingeführt werden: Bevor der Radler in den Straßentunnel einfährt, drückt er einen Schalter und aktiviert damit das Warnblinklicht für die Autofahrer: Biker in Tunnel!

 

 

 

 

 

Es beginnt mit einem Interview für den "Davis Enterprise". Am Morgen nach meiner Ankunft kommt eine junge Journalistin in Fahrradmontur mit ihrem Rennrad vorbei. Unser Interview beginnt mit einer einstündigen Rundfahrt durch die Außenbezirke der Stadt, danach setzen wir das Gespräch in einem Studenten-Cafe fort. Der ausführliche Bericht erscheint bereits am folgenden Tag - ohne wesentliche inhaltliche Fehler (das gibt es wirklich selten) und gar mit neuen Erkenntnissen für mich selbst. ("Perhaps he returns to the road because the road treated him well.")

Radweg in Davis

 

 

Während die Zeitung bei Steve Tracy - 642 D Street, Davis - in den Briefkasten eingeworfen wird, bin ich mit selbigem unterwegs auf einer ausgedehnten Radführung durch die Stadt. Sie dauert den gesamten Vormittag und ist der zweite größere Programmpunkt, den sich Ulrike und Tom für mich ausgedacht haben. Steve ist Stadtplaner und hat ganz wesentlich mitgewirkt, Davis so fahrradfreundlich zu machen, wie es es heute ist. Ungezählte Stunden hat er damit verbracht, Radfahrer, Fußgänger und Motorisierte an neuralgischen Verkehrspunkten zu beobachten, Konflikte zu analysieren und Lösungen zur Behebung dieser Konflikte zu finden.

Harrison Phipps, ein Künstler aus Davis, hat die Cycletar gebaut, eine Gitarre aus gebrauchten Fahrradteilen.

 

Wir radeln zum weit ausgedehnten Campus der Universität, in dem Tausende von Fahrradständern montiert sind. Nur Busse und Service-Fahrzeuge dürfen die Wege benutzen, aber keine privaten Autos. Auf unserer weiteren Tour fahren wir kilometerlang über Radwege durch Grünanlagen, ohne eine Autostraße zu queren. Steve zeigt mir auch die Stelle in der Sycamore Lane, an der im Jahre 1967 der erste Radweg der Vereinigten Staaten neben der Straße markiert wurde.

Der dritte Punkt des Hauptprogramms ist eine große Ehre für mich. In der US Bicycling Hall of Fame erwartet man einen Vortrag - einen "Talk" - über meine Reise um die Welt. Das Interesse in der Fahrradstadt Davis ist groß. Und nach dem ausführlichen Artikel im "Davis Enterprise" ist der Saal gut gefüllt. An meine halbstündige Präsentation schließt sich eine Fragerunde an, die schließlich vom Veranstalter, Dave Takemoto-Weerts, wegen Überlänge abgebrochen wird.

Tom mit der Cycletar

 

Danach führt Dave uns - Ulrike, Tom und mich - durch das Fahrradmuseum im Untergeschoss der Hall of Fame. Das darf sich wirklich niemand entgehen lassen, der nach Davis kommt. Die Ausstellungsstücke reichen von Draisinen über Hochräder (auch mit ungewohnter Anordnung der Räder: hinten das große Rad, vorn das kleine, weil man damit nicht vornüber kippen kann) zu Fahrrädern mit kettenlosem Antrieb. Neben dem üblichen Ansatz mit Kardangetriebe gibt es hier eine Lösung mit drei Zahnrädern, die das Tretlager mit dem Hinterrad verbinden.

Das Museum bietet aber auch einige moderne Ausstellungsstücke. Mit einer Mischung aus Süffisanz und Enttäuschung erklärt Dave: "Und das hier ist das Rad, mit dem Lance Armstrong die Tour de France ... nicht gewonnen hat." Nach Armstrongs Geständnis habe er einige Schilder zu den Exponaten abändern müssen.

Tom fragt bei diesem Anlass: "Können wir nicht Peter in die Hall of Fame aufnehmen?"

Klare Antwort von Dave: "Das geht nicht, weil er kein Amerikaner ist."

Tom lässt, in seiner hartnäckigen Art, nicht locker: "Was können wir tun, damit er Amerikaner wird?"

Ich fotografiere derweil weiter die Ausstellungsstücke und tue so, als würde ich von dem Dialog nichts mitbekommen. Mir ist nämlich nicht ganz klar, ob ich wirklich Amerikaner werden möchte.

Kettenloser Antrieb - ein Fahrrad im Museum der US Bicycling Hall of Fame.

 

 

 

 

 

 

 

Welch schöne Zeit in Davis! Was für ein warmer Empfang durch Ulrike, Tom und ihre Freunde, die ich hier kennenlernen durfte. Dann eines Tages Abschied zu nehmen, ist etwas, was man auf einer so langen Reise lernen muss.

Nur 150 Kilometer sind es jetzt bis zur Golden Gate Bridge. Und südlich von San Francisco wartet ein weiterer Mensch, der mir auf meiner Tour de Friends ans Herz gewachsen ist.

Wir radelten vor eineinhalb Jahren von Wladimir, der Erlanger Partnerstadt in Russland, zusammen über Moskau nach Shazk. Er war ein sehr angenehmer Reisegefährte. In Shazk verabschiedete sich der junge Anton Tschelych und fuhr auf dem direkten Weg zurück nach Wladimir.

Als er zu Hause ankam, entdeckte er eine Nachricht, die sein Leben verändern sollte. Sie brachte ihn in die Vereinigten Staaten. In ein paar Tagen werden wir uns wiedersehen.

 
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